# taz.de -- Opern-Uraufführung in Hannover: Vorbeisein ist alles | |
> Die Oper „Echo 72“ beschäftigt sich mit dem Anschlag auf die israelische | |
> Olympia-Mannschaft 1972. Die Musik ist klug, die Inszenierung oft | |
> überdeutlich. | |
Bild: Nach dem Tod der Sportler tritt die Klage in die Vitrine: Sopran Idunnu M… | |
Für den emotionalen Höhepunkt seiner Olympia-Oper „Echo 72“, hat Michael | |
Wertmüller eine doch überraschend tonale Gestaltung gewählt. Der Schweizer | |
[1][Komponist und Jazzschlagzeuger] bedient sich dafür in Hannover schlau | |
eines als kitschverdächtig eher verpönten Tricks des ausgehenden 19. | |
Jahrhunderts: „Wir fliegen, wir sind da“, lässt er die Hürdenläuferin und | |
ihren Trainer wie bei Herzschmerzweltrekordhalter Giaccomo Puccini in einem | |
einstimmigen Duett singen. | |
Das heißt, Bass Daniel Eggert und Sopran Ketevan Chuntishvili haben | |
dieselbe Melodie in des-Moll, einer ziemlich entlegenen Tonart. Sie singen | |
im selben Rhythmus und zugleich dieselben Töne, as, des, c und des – bloß | |
eben je in der ihrer Lage angemessenen Oktave: Nichts kann gefühlsmäßigen | |
Einklang stärker und besser transportieren. | |
Denn statt einander zu begleiten, also harmonisch zu analysieren und | |
Hierarchie auszubilden, werden die zwei so ein Herz und eine Seele: „Wir | |
zeigen der Welt unsere Fahne“, schmettern sie schließlich im Forte. Und das | |
ist schlüssig. Den inneren Glutkern der absolut sehens- und noch mehr | |
hörenswerten Oper „Echo 72 –Israel in München“, die am Samstag in Hanno… | |
ihre Uraufführung erlebte, bilden die Freude und das Staunen über das | |
überlebende jüdische Dasein, die immer schon in Entsetzen umgeschlagen zu | |
sein scheint. | |
Es ist aber doch die Freude über das Wunder, die hier erklingen darf, seine | |
Selbstrettung aus dem Holocaust, stolz in Szene gesetzt bei diesem Auftritt | |
auf der internationalen Bühne – im Land der Täter, dort, in der Hauptstadt | |
der Nazi-Bewegung gar. Der hätte ein Triumph sein sollen. Stattdessen wurde | |
er zur Katastrophe. | |
## Museum des Sports | |
Die Oper kreist um den Terroranschlag auf die israelische Mannschaft bei | |
den Olympischen Sommerspielen von München, ohne ihn abzubilden oder zu | |
erzählen: Am 5. September 1972 dringen acht palästinensische Terroristen | |
ins Quartier der israelischen Mannschaft im olympischen Dorf ein. Sie | |
nehmen neun Geiseln. Zwei von ihnen sterben gleich zu Beginn der Aktion, | |
die übrigen auf dem Flughafen in Fürstenfeldbruck beim staatlichen | |
Befreiungsversuch. | |
Die Oper nimmt Bezug auf den Anschlag, lässt ihn nachhallen und man kann | |
sagen: Das Libretto von [2][Roland Schimmelpfennig romantisiert ihn auch | |
ein wenig]. Auf intelligente Weise überhöht es ihn mithilfe der alle Zeit-, | |
Sinn- und Raumschichten des Werks durchschreitenden allegorischen Figur der | |
Klage. | |
Fantastisch hat Wertmüller deren innere Vielfalt in eine Gesangspartie | |
übersetzt. Nur wenige Mezzosopranistinnen verfügen über eine Technik, die | |
ihnen so umstandslos vom fast perkussiven Sprechgesang über Belcanto ins | |
Metal-Shouting zu wechseln erlaubt. Idunnu Münch aber tut’s, als wäre es | |
das Alltäglichste auf der Welt. | |
Der Kunstgriff, eine solche imaginäre Figur ins Drama zu montieren und es | |
mit ihr zu ordnen und das Geschehen zu deuten, macht klar, dass | |
dokumentarisches Theater nicht das primäre Ziel der Produktion ist. Da kann | |
dann ruhig, vier Jahre bevor Deutschland so weit ist, auch eine Frau – | |
Corinna Harfouch – die Rolle der Chefnachrichtensprecherin übernehmen, das | |
ist schon okay. | |
Trotzdem befremdet der etwas leichtfertige Umgang, den sich Schimmelpfennig | |
mit den Fakten erlaubt. So erfindet er weibliche Opfer – neben der besagten | |
Hürdenläuferin zwei Fechterinnen – die es nicht gab: Die zwei Frauen, die | |
1972 zum israelischen Team gehörten, leben noch. Und Schwimmerin Shlomit | |
Nir ist eine der wenigen Augenzeuginnen des Attentats. | |
Statt auf deren Aussagen setzt das Libretto auf Typen, die je für eine | |
Sportart stehen. Aus diesem Bilderbogen entwickelt Regisseurin Lydia Steier | |
eine Art Rundgang durch ein imaginäres Museum des Sports. In das hat | |
Bühnenbildner Flurin Borg Madsen große Vitrinen gebaut, in denen die | |
Disziplin-Repräsentanten einzeln oder im Zweikampf miteinander stehen. | |
Der Vorteil: Wenn der toll agierende Chor als bunter Touri-Haufen durch | |
diese dem NS-Haus der Kunst nachempfundenen Räume tänzelt, vermittelt sich | |
das Ganze als Blick aus der Gegenwart auf ein Ereignis das noch ins Jetzt | |
ragt – und dessen historischen Hintergrund. | |
Wenn dann als Video [3][die Weigerung von Israels Premierministerin Golda | |
Meir] projiziert wird, Geiseln gegen Häftlinge auszutauschen, weil in der | |
Folge jede Jüdin und jeder Jude weltweit zum potenziellen Opfer von | |
Kidnappern geworden wäre, [4][erfasst einen angesichts der gegenwärtigen | |
Nachrichtenlage das kalte Grausen]. Der Nachteil: Später fungieren die | |
Vitrinen als Individualgaskammern. Das ist aber kein Schock, und schon gar | |
kein heilsamer, sondern ein billiger Effekt. | |
## Die Musik hat das letzte Wort | |
Das hat die Partitur nicht nötig. Aber auch das Libretto arbeitet so | |
plakativ nicht: Schimmelpfennig lässt seine Modell-Athlet*innen | |
lyrisierend das menschenschinderische olympische Ideal des | |
Höher-schneller-weiter reflektieren – [5][in deren Verwirklichung Georges | |
Perec einst ein Bild des idealen Konzentrationslagers darstellte]. Und er | |
lässt sie der integrativen Dabeisein-ist-Alles-Idee nachhängen. | |
Bloß neigt die Inszenierung auch hier zur Überdeutlichkeit: Die Figuren | |
werden gegen den Text als identifizierbare Personen gestaltet. Das | |
verstärkt noch dessen Neben- und bisweilen Durcheinander von realem | |
Geschehen und Fiktion, das fragwürdig bleibt: Ein Werk, das sich die | |
Aufgabe stellt, ein konkretes historisches Ereignis zu reflektieren, um in | |
ihm eine überzeitliche Dimension freizulegen, hätte auch aus künstlerischen | |
Gründen die Gegebenheiten so ernst zu nehmen wie möglich. | |
Ein kühnes Echo auf die Kläglichkeit des staatlichen Befreiungsversuchs ist | |
die genial witzige Polizistenfigur. Schimmelpfennig lässt sie, ganz hin und | |
weg vom großen Rummel und zugleich verzweifelt, versuchen, mit ihrem | |
stummen, da defekten, Funkgerät Zwiesprache zu halten. | |
Wertmüller hat diese Szene musikalisch in ein tolles Kabinettstückchen für | |
einen Tenor verwandelt. Ensemblemitglied Ziad Nehme, von Andy Besuch in | |
eine der peinlich-schlecht geschnittenen grünen Polizei-Uniformen von | |
damals gehüllt, bringt deren haltlose Glissandi und hilflosen Ton-Hopser | |
mit Bravour rüber. | |
Die Musik hat, klug wie sie ist, auch das letzte Wort: Der Vorhang ist | |
schon gefallen, und dann flammt ein ultrakurzes Staatsorchester-Nachspiel | |
auf, erbarmungslos von Titus Engel angetrieben, es schwillt an, bedrohlich | |
laut, rasend schnell, wird noch lauter. Bricht ab. Schluss, Aus, mitten in | |
der Bewegung, im Flug. Kein Ende. Nur ein Vorbeisein. Das ist alles. | |
28 Jan 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Saisonstart-an-Hamburger-Staatsoper/!5235946 | |
[2] /Theaterpremiere-in-Hamburg/!5041291 | |
[3] /Guy-Nattiv-ueber-seinen-Golda-Meir-Film/!6009989 | |
[4] /Krieg-in-Gaza/!6061969 | |
[5] https://www.diaphanes.net/titel/w-oder-die-kindheitserinnerung-1479 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
## TAGS | |
Oper | |
Hannover | |
Olympia-Attentat in München | |
Musik | |
Oper | |
Staatsoper Hamburg | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Oper „Rheingold“ in Paris: Singen über Gewalt | |
Die Pariser Opéra Bastille ist eines der größten Opernhäuser weltweit. | |
Regisseur Calixto Bieito inszeniert dort aktuell Wagners „Rheingold“. | |
Glänzt es auch? | |
Saisonstart an Hamburger Staatsoper: Mit Kraftausdrücken, ohne Rückenlehne | |
Mit „Weine nicht, singe“ vom Schweizer Komponisten und Schlagzeuger Michael | |
Wertmüller wird die Hamburgische Staatsoper ihrem Anspruch auf Innovation | |
gerecht | |
Jazz-Kolumne: Wo der Jazz noch blüht | |
Das Enjoy Jazz zeigt, wie ein gutes Festival funktionieren kann. Für die | |
Events lässt man sich Zeit. Und sie werden mit Liebe und Ernsthaftigkeit | |
präsentiert. |