# taz.de -- Jazz-Kolumne: Wo der Jazz noch blüht | |
> Das Enjoy Jazz zeigt, wie ein gutes Festival funktionieren kann. Für die | |
> Events lässt man sich Zeit. Und sie werden mit Liebe und Ernsthaftigkeit | |
> präsentiert. | |
Bild: Peter Brötzmann auf dem Enjoy Jazz: Ein besessenes und lautes Konzert. | |
Jeden Tag mindestens ein Event, 50 Konzerte in knapp sechs Wochen - anders | |
als bei den großen internationalen Jazzfestivals sonst üblich, lässt man | |
sich bei Enjoy Jazz Zeit. Bis einschließlich 9. November dauert das 9. | |
Enjoy Jazz Festival noch, der Bassist Charlie Haden gibt hier (am 5. 11.) | |
europaweit das einzige Duokonzert mit dem Pianisten Brad Mehldau in diesem | |
Jahr - zwei der für ihre Generationen einflussreichsten Musiker werden dann | |
zusammen improvisieren. Dass Haden in diesem Jahr 70 wurde, nahm der | |
Festivalmacher Rainer Kern zum Anlass, den gefragten und politisch | |
ambitionierten Bassisten zu einem weiteren Konzert mit seinem Quartett West | |
(3. 11.) und auch zu einem öffentlichen Gespräch (4. 11.) zu verpflichten. | |
Kern, der es vor zwei Jahren schon geschafft hatte, Ornette Coleman nach | |
Ludwigshafen zu holen, kann stolz sein - damals habe kein Radiosender das | |
Konzert aufzeichnen wollen, berichtet er, mittlerweile hat Coleman für den | |
auf CD veröffentlichten Konzertmitschnitt "Sound Grammar" den | |
Pulitzer-Preis bekommen und war für einen Grammy nominiert. Für Ornette | |
Coleman fuhr er damals nach New York, um ihn persönlich zu engagieren. Mit | |
Haden hat er es in diesem Jahr ähnlich geschafft. | |
Schließlich hat man hier nicht die wirklich großen Gelder zu verteilen, vor | |
allem möchte man nicht nur mit Managern und Agenturen kommunizieren, | |
sondern mit Künstlern zusammenarbeiten, die bereit sind, aus dem eintönigen | |
Touralltag auszubrechen und den interessierten Menschen mehr zu geben als | |
ein mittelmäßiges Konzert. Deshalb gibt es bei Enjoy Jazz zusätzlich zu den | |
Konzerten auch Gespräche und Workshops mit ausgewählten Künstlern. Zwischen | |
New York und Donaueschingen, wo am Samstagabend sein Antikriegsstück | |
"Ripples from the Bang" Premiere hatte, gab der Gitarrist Elliott Sharp bei | |
der Heidelberger Enjoy Jazz Matinee am Sonntagmorgen ausführlich Auskunft | |
darüber, wie gesellschaftskritischer Unmut heute zeitgenössische | |
Komposition beeinflussen kann. Bei seinem Konzert am 4. November wird Sharp | |
dann die Kompositionen von Thelonious Monk auf Sologitarre interpretieren. | |
Schon im Juni hatte der Altsaxofonist Lee Konitz, bekannt für seine | |
Mitwirkung bei der "Birth of the Cool"-Platte von Miles Davis und wegen | |
seiner genreprägend "coolen" Zusammenarbeit mit dem Pianisten Lennie | |
Tristano, beim JVC-Jazzfestival in New York das Erreichen des 80. | |
Lebensjahres mit einem großen Konzert in der kleinen Carnegie Hall | |
vorgefeiert. Am 13. Oktober, dem Tag, an dem er wirklich Geburtstag hat, | |
stand Konitz nun in Mannheim auf der Enjoy-Jazz-Bühne und ließ sich feiern. | |
Von seinem New Yorker Nonett, von seiner Musik und von einem emphatischen | |
Publikum - schließlich kamen annähernd doppelt so viele Menschen zu diesem | |
Konzert wie in New York. | |
Konitz, der in Köln, New York und demnächst auch in der Nähe von Krakau | |
lebt, erzählt im Gespräch beim Workshop am folgenden Tag, dass er den | |
Standard "All the things you are" seit 55 Jahren spielt und ihm immer noch | |
ein neues Solo darüber einfalle. Ornette Coleman allerdings, sagt Konitz, | |
habe man einst zu oft erzählt, dass es im Jazz vor allem darum ginge, seine | |
eigenen Sachen zu entwickeln. Deshalb habe Coleman heute zu wenig | |
jazzhistorische Kompetenz. Ornette, der Altsaxofon spielt wie Konitz, sei | |
bestenfalls ein Dichter, kein Theoretiker. Es seien die Aufnahmen von | |
Konitz und Tristano aus dem Jahr 1949 gewesen, die Coleman zu dem | |
inspiriert hätten, was dann später als Free Jazz in die Geschichte einging, | |
behauptet Konitz, dessen eigene Reputation in der Hierarchie der | |
Jazzgeschichte allerdings und anders als bei Coleman nie weiter als in den | |
oberen Mittelbau reichte. Stundenlang könnte Konitz auch über die | |
Blattstärke seiner Mundstücke und die Variationen von Klängen referieren, | |
fast leise, bezaubernd unspektakulär spielt sein mit durchweg jungen | |
Musikern besetztes Nonett seine Musik. | |
Neben Dianne Reeves (1. 11.), Joshua Redman (7. 11.) und Marc Ribot (8. | |
11.) haben auch David Murray und Peter Brötzmann bei Enjoy Jazz eine Bühne. | |
Zusammen mit dem Bassisten Marino Pliakas und dem Schlagzeuger Michael | |
Wertmüller spielte Brötzmann eines jener besessenen und auch lautesten | |
Konzerte des Festivals. Im Gespräch hinter der Bühne betont er immer | |
wieder, dass es ihm um Musiker geht, die darauf brennen, sich die Nächte um | |
die Ohren zu schlagen, und das immer wieder von Neuem. Kontinuierliche | |
harte Arbeit und Leidenschaft mischen sich bei ihm zu etwas ganz Großem. | |
Unerwartet moderat kam der eher als sperrig und wortkarg geltende | |
Saxofonist Heinz Sauer im Heidelberger Karlstorbahnhof an. Vor fast 40 | |
Jahren habe er zum letzten Mal in Heidelberg gespielt, berichtet Sauer, | |
damals habe man in einer Kneipe in der Hauptstraße noch gegen den | |
gemeinsamen Feind improvisiert. Ob das jetzt auch so gehe, fragt Sauer bei | |
der Ankündigung seines Duokonzertes mit dem jungen Pianisten Michael | |
Wollny. Ob Thelonious Monks "Evidence", Billie Holidays "Dont explain" oder | |
eigene Kompositionen, Wollny und Sauer überboten sich an diesem Abend | |
selbst - Qualität, Wissen und Wahrhaftigkeit in einem einzigartigen | |
Konzert. | |
Enjoy Jazz zeigt, dass es doch noch möglich ist, auch in Deutschland ein | |
informiertes und strahlendes Jazzfestival zu veranstalten. Während das | |
Berliner JazzFest im Rausch gefühlter und gefakter Folklorismen nur noch | |
ein Zerrbild dessen abbildet, was Jazz alles kann, setzt man in der | |
"Metropolenregion" Heidelberg, Mannheim, Ludwigshafen auf die aktuellen | |
Kompetenzen, Dissonanzen und Diskurse eines blühenden Genres. | |
22 Oct 2007 | |
## AUTOREN | |
Christian Broecking | |
## TAGS | |
Kolumne Großraumdisco | |
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