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# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Durchhalten in einem Trümmerhaufen
> In der ukrainischen Stadt Wowtschansk an der Front steht kein Haus mehr.
> Für die ukrainischen Soldaten steht die Stadt für das, was ganz Europa
> droht.
Bild: „Unsere Jungs sind nicht aus Stahl, aber sie haben standgehalten“: De…
Wowtschansk taz | Eine Reise nach Wowtschansk ist etwas, über das man vor
der Abfahrt mit niemandem sprechen würde. Höchstens dann, wenn man
unversehrt zurückgekommen ist. Denn das heutige, reale Wowtschansk kann man
nicht mehr als Realität wahrnehmen. Einfach, weil so etwas selbst in den
krassesten Actionfilmen nicht vorkommt.
Kommt man mit dem Auto an, schnappt man sofort sein komplettes Gepäck
inklusive Lebensmittel und Kanister für Wasser und Benzin und rennt zum
nächsten Keller. In Wowtschansk gibt es keine oberirdischen Gebäude mehr,
in denen man Schutz suchen könnte.
Wowtschansk liegt in Schutt und Asche. Das Neubaugebiet existiert nicht
mehr, ebenso wenig gibt es noch den großen Supermarkt, das Gericht und die
Aggregat-Fabrik. Von Kirchen und sämtlichen Verwaltungs- und Wohngebäuden
sind nur noch Trümmerhaufen übrig.
## „Brauchen sie gerade diese Stadt? Wahrscheinlich nicht.“
Wowtschansk liegt etwa 70 Kilometer nordöstlich von Charkiw, direkt an der
Grenze zu Russland. Vor dem Krieg lebten hier etwa 19.000 Menschen. Der
[1][russische Vormarsch] begann hier am 10. Mai 2024. Seitdem hat Russland
Lenkbomben, Raketenwerfer, schwere Flammenwerfersysteme vom Typ Solncepek
und sogar seine stärkste nichtnukleare Waffe, die ODAB-Vakuumbombe,
eingesetzt. Darum ist jetzt von den Wowtschansker Wohngebieten praktisch
nichts mehr übrig. Und so sieht auch die Zufahrtsstraße aus. Bevor man sie
befährt, erstarren die Menschen im Auto und horchen, ob sich nicht etwa
gerade wieder eine Drohne nähert.
In den feuchten, dämmrigen und niedrigen Kellern wird über schwere
Verwundungen geredet. Oder darüber, was die russischen Streitkräfte
wirklich wollen. „Sie begannen zunächst, Wowtschansk mit Lenkbomben zu
beschießen. Das war nach Awdijiwka, als sie unsere Verteidigung mit
Lenkbomben durchbrachen. Und jetzt haben sie beschlossen, auf diese Weise
auch Wowtschansk zu erobern. Unsere Jungs sind nicht aus Stahl, aber sie
haben dem standgehalten“, sagt „Thor“, ein 23-jähriger Pionier der
Luftaufklärungseinheit der 57. Brigade, der seit Mai in und um Wowtschansk
unterwegs ist.
Der Soldat ist überzeugt davon, dass Wowtschansk an sich für die Russen
keinen Wert besitzt, denn sonst würden sie die Stadt nicht in Schutt und
Asche bomben. „Ihre Taktik ist dieselbe wie in Awdijiwka. Es geht darum,
die Stadt bis auf die Grundmauern zu zerstören, damit unser Militär keinen
Platz mehr hat, um sich zu verstecken oder sich zu verteidigen. Brauchen
sie gerade diese Stadt? Wahrscheinlich nicht. Sie brauchen nur das Gebiet,
das heißt ein Zeichen dafür, dass sie dieses Gebiet durchquert haben, es
also besetzt haben. Dann ziehen sie einfach weiter. Die Stadt an sich hat
keinen Wert für sie“, sagt „Thor“.
Im Schutzkeller meinen die Menschen, dass die Offensive auf ihre Stadt
höchstwahrscheinlich nicht, wie Präsident Wolodymyr Selenskyj zunächst
befürchtete, mit einer geplanten russischen Offensive auf Charkiw
zusammenhing. Denn nach Wowtschansk stünden die russischen Streitkräfte
weiter westlich vor einem viel größeren Hindernis – dem riesigen
Petschenihy-Stausee. Man geht davon aus, dass der Feind
höchstwahrscheinlich in Richtung Kupjansk vorrücken wollte.
## Die gegnerischen Soldaten in ein und demselben Gebäude
Russland hatte im Frühjahr 2024 offenbar zwar geplant, nach Charkiw
vorzustoßen. Doch einen ersten Angriff auf den Ort Lypzi konnten die
ukrainischen Verteidigungskräfte stoppen.
Die russischen Pläne wurden durch zwei Faktoren vereitelt: die extreme
Standhaftigkeit und Ausdauer der ukrainischen Soldaten sowie die
ukrainische Gegenoffensive in das russische Gebiet Kursk im August. Damit
verhinderte die Ukraine einen russischen Angriff auf Sumy, der parallel zu
den anderen Vorstößen zur Bildung einer „großen Zange“ um Charkiw herum
hätte führen können.
Die Front ist in Wowtschansk inzwischen fast stabil. Oft liegen zwischen
den Stellungen der russischen und ukrainischen Streitkräfte nur wenige
Meter. Manchmal befinden sich die gegnerischen Soldaten sogar in ein und
demselben Gebäude, nur auf verschiedenen Etagen. Oder in
nebeneinanderliegenden Kellern.
In der näheren Umgebung gibt es noch einige Häuser, in denen Zivilisten
leben, das Militär schätzt ihre Zahl auf etwa fünfzig. Sie ernähren sich
von dem, was sie im Sommer in ihren Gärten angebaut haben.
## Nur in Kellern und Höhlen geht das Leben hier weiter
„Thor“ berichtet über Fälle von Widerstand dieser Menschen gegen die
russischen Besatzer. So habe er von einer Drohne aus beobachtet, wie eine
Einheimische im Dorf Tyche in der Nähe von Wowtschansk die Habseligkeiten
russischer Besatzer, die bei ihr einziehen wollten, aus ihrem Haus auf die
Straße warf.
„Adam“, ein ebenfalls 23-jähriger Kommandant der 57. Brigade, erinnert sich
daran, wie ein älterer Mann mit einer weißen Tasche allein und zu Fuß aus
dem besetzten nördlichen Teil von Wowtschansk auf die ukrainische Seite
ging, trotz heftigen Beschusses und Gefahr. Es gelang ihm, völlig
unversehrt zu passieren. Und im Sommer statteten zwei Teenager im Alter von
15 bis 18 Jahren ihrer Heimatstadt Wowtschansk während der Ferien furchtlos
einen Besuch ab.
Keller und Höhlen sind die einzigen Orte in Wowtschansk, an denen das Leben
noch weitergeht. Im Keller wird gescherzt, obwohl immer viel Traurigkeit
dabei ist. „Wenn ein gesunder Mensch erzählen würde, was hier los ist, ich
glaube, das würde nicht jeder aushalten. Wir reden lachend darüber, dass
jemand getötet wurde. Man gewöhnt sich an alles. Du kommst nach Hause und
es ist nicht mehr dasselbe wie früher für dich, auch wenn es noch genauso
aussieht“, gibt Adam zu.
Die Männer der 57. Brigade leben die ganze Zeit unter der Erde, im
Halbdunkel, vor Bildschirmen. Oft wissen sie nicht, ob draußen Tag oder
Nacht ist. Das Luftaufklärungsteam kommt nur nach oben, um die Drohne
aufzuladen oder die Batterie zu wechseln. Die Tage vergehen mit
Feindsichtung, Feindzerstörung und Austausch von Informationen.
Glücklicherweise wurden in Wowtschansk noch keine Nordkoreaner oder Syrer
gesichtet.
## Die Angst vor dem dritten Weltkrieg
Es scheint nicht logisch, aber diejenigen, die die brutalsten Schlachten in
Bachmut und Wowtschansk erlebt haben, haben Angst vor dem dritten
Weltkrieg. „Für unsere Verwandten wird sich alles ändern. Der Krieg kommt
schon jetzt in jede Stadt, die Menschen leiden. Aber es wird sich mehr und
mehr [2][ausweiten]. Ihr seid hier, in den Stellungen, damit eure Liebsten
in Frieden leben können“, sagt Kommandant „Adam“ zu seinen Soldaten.
Aber er lacht sofort: „Wir sind von Lenkbomben und Phosphor getroffen
worden. Wir sind noch nicht von Atomwaffen getroffen worden, darüber kann
ich also noch nichts erzählen.“
In Wowtschansk haben die russischen Streitkräfte Tausende Soldaten
verloren, ohne ein klares Ergebnis zu erzielen. Die Russen haben keine
„Schmerzgrenze“, davon ist der Luftaufklärungstrupp der 57. Brigade
überzeugt. Auch auf zivile Russen zu hoffen, ist zwecklos. „Es wird sie
absolut nicht erreichen. Denn sie sind Lebewesen, die einen Zaren brauchen.
Sie sind es gewohnt, ihr ganzes Leben lang gebückt zu leben, wie Sklaven“,
sagt „Thor“.
Er traut den Russen nicht, [3][auch nicht denen, die das Land verlassen
haben.] Nach Ansicht des Kämpfers sind die einzigen Patrioten Russlands
diejenigen, die im russischen Freiwilligenkorps auf der Seite der Ukraine
kämpfen.
## Die Kämpfer sind erschöpft
„Für jeden Soldaten ist jeder weitere Tag, jeder Monat, gar nicht zu reden
vom nächsten Jahr schwierig, [4][denn die Kämpfer sind einfach erschöpft]“,
sagt „Thor“. Er ist davon überzeugt, dass – entgegen aller Gerüchte –…
aktive Kriegsphase noch mindestens ein Jahr dauern wird. „Adam“ glaubt
sogar, dass die Menschen auf einen noch 15 Jahre dauernden Krieg
vorbereitet sein sollten.
Beim Abschied sagt „Adam“: „Das ist unser Land. Wir sind hier aufgewachse…
wir leben hier. Es gehört uns. Also müssen wir daran festhalten und das
werden wir auch. Und alles wird gut werden. Wir alle werden das Land
halten.“
Aus dem Russischen: [5][Gaby Coldewey]
12 Jan 2025
## LINKS
[1] /Russischer-Vormarsch-auf-Region-Charkiw/!6007318
[2] /Slowakei/!6061141
[3] /Meduza-Auswahl-2-8-Januar-2025/!6036458
[4] /Krieg-in-der-Ukraine/!6058244
[5] /!a23976/
## AUTOREN
Juri Larin
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