| # taz.de -- Grenzforscher Van Houtum über Karten: „Migrant*innen sind keine … | |
| > Karten geben nur bedingt die Wirklichkeit wider. Der Grenzforscher Henk | |
| > van Houtum plädiert für eine kritische Kartografie, die auch die | |
| > Erfahrungen der Menschen aufzeigt. | |
| Bild: Was zeigt eine Weltkarte wirklich? | |
| taz: Herr van Houtum, bei Vorträgen berufen Sie sich gerne auf René | |
| Magritte. Aber was hat ein Surrealist mit Kartografie zu tun? | |
| Henk van Houtum: Das zeige ich anhand des berühmten Bilds der Pfeife mit | |
| der Unterschrift „Ceci n’est pas une pipe“. Wir sehen hier keine Pfeife, | |
| sondern nur eine Abbildung davon. So ist es mit der Weltkarte auch: Sie | |
| zeigt nur eine Abbildung der Welt. Wir müssen eine Karte als Vorschlag | |
| einer Perspektive verstehen. Unsere Weltkarte vermittelt eine bestimmte | |
| Perspektive auf die Welt der Staaten. Ihr Ausgangspunkt ist eine | |
| Navigationskarte aus dem 16. Jahrhundert, die auf Gerardus Mercator | |
| zurückgeht, der auch ‚Atlas‘ als Name für eine Kartensammlung geprägt ha… | |
| Als Entdeckungskarte war sie die Grundlage der kolonialen Seefahrt. Diese | |
| koloniale Komposition (Welche Staatsmacht regiert wo?) ist zu unserem | |
| dominanten Weltbild geworden, das wir von klein auf überall sehen. Aber das | |
| ist nicht die Welt: Ceci n’est pas le monde. | |
| taz: Ihr Buch „Free the map“ stellt diesen Ansatz prinzipiell infrage. | |
| Van Houtum: Eine Karte ist immer nur eine vereinfachte Wiedergabe der | |
| Wirklichkeit. Daran ist nichts verkehrt, denn die lässt sich nun mal in | |
| zweidimensionaler Darstellung nicht in ihrer Vollständigkeit wiedergeben. | |
| Was mich aber seit Langem wundert, ist, warum es nur diese eine | |
| staatenzentrierte Weltkarte gibt, statt 1.001 Karten. Es wird so getan, | |
| als sei diese Karte objektiv, was natürlich unmöglich ist. Hinter jeder | |
| Karte stecken subjektive Entscheidungen, angefangen mit der Frage, welche | |
| Daten man sammelt und ihr zugrunde legt. | |
| taz: Sie wollen die Kartografie also befreien. Aber wovon eigentlich? | |
| Van Houtum: Staatszentrierte Karten negieren Menschen und nicht staatliche | |
| Akteure, die Geschichte und Unterschiede zwischen Grenzregimen. Sie | |
| normalisiert staatliche Macht, und damit Nationalismus, Wir-sie-Denken. Am | |
| auffälligsten ist dabei, wie Grenzen und Migration in einem Standardatlas | |
| dargestellt werden. Der Atlas, wie wir ihn kennen, steckt in einer | |
| doppelten Falle: die der Grenze und der Migration. Eine Grenze zwischen | |
| Staaten ist nicht einfach eine Linie, wie wir sie im Atlas sehen. Und | |
| Migrant*innen sind keine dicken, roten Pfeile, so wie sie auf den | |
| gängigen Karten erscheinen. Beides zusammen nenne ich „die Last von Atlas“, | |
| der ja in der Mythologie die ganze Welt auf seinen Schultern trägt. | |
| taz: [1][Beginnen wir mit den Grenzen], Ihrem Expertisegebiet. | |
| Van Houtum: Ein Ausgangspunkt für „Free the map“ ist, die nationalen | |
| Sichtweisen zu hinterfragen, die unser Denken bestimmen. Unsere Geografie | |
| beruht auf Karten, von denen wir uns nie fragen, wer der Autor ist. Auf der | |
| Weltkarte sehen wir buntgefärbte Felder für die Staaten: Niederlande, | |
| Deutschland, Belgien. Die Nationen werden als eigenständige, unabhängige | |
| Einheiten dargestellt, wodurch die Unterschiede zwischen den Ländern | |
| hervorgehoben werden. Zusammenarbeit und Beziehungen über Grenzen hinweg | |
| sowie die Verflechtungen von Kulturen, Rechtsstaaten und Volkswirtschaften | |
| werden nicht gezeigt. Mit dieser Karte werden wir täglich konfrontiert, in | |
| der Politik, beim Wetter, in der Werbung. Das macht etwas mit Menschen. | |
| taz: Was wollen Sie dem entgegenstellen? | |
| Van Houtum: Es gibt nicht nur getrennte Länder, sondern auch eine | |
| Internationalisierung, ohne die die Welt nicht funktionieren könnte. Doch | |
| das wird auf der Karte nicht dargestellt. Das bedeutet auch, dass in der | |
| geografischen Realität die Grenze sich ständig verändert. Sie ist keine | |
| feste Linie und auch nicht vollständig geschlossen. In diesem Sinn spreche | |
| ich lieber von „bordering“, also einem Verb. Es ist immer ein Prozess, der | |
| Aktivitäten und Akteur*innen benötigt, damit er existieren kann. Grenzen | |
| sind dadurch offen für manche Aktivitäten und geschlossen für andere. | |
| Manche Akteur*innen können sie passieren, andere nicht. Das bedeutet, | |
| dass wir uns fragen müssen: Wer begrenzt eigentlich wen, warum und mit | |
| welchen Konsequenzen für die anderen und für uns? | |
| taz: Sie betrachten diese Frage sehr grundlegend. Einer der zentralen | |
| Punkte dabei ist das, was Sie die „Visum-Grenze“ nennen, also die | |
| internationale Visum-Politik. Welche Rolle spielt sie? | |
| Van Houtum: Weil sie die größte Ungleichheit darstellt. Die Suggestion, | |
| dass alle Grenzen gleich sind, wie sie auf einer Weltkarte zu sehen sind, | |
| ist also falsch. Grenzen sind ungleich. Beim Blick auf Grenzen zoomen wir | |
| eigentlich immer auf das Spektakel ein, auf die Linien, und damit auf Zäune | |
| und Mauern. Grenzen werden zu einem Spektakel gemacht, etwa wenn Trump eine | |
| „big, fat, beautiful wall“ ankündigt. Natürlich ist das vor allem eine | |
| Botschaft an die eigenen Wähler*innen. Die Visum-Grenze ist dagegen nicht | |
| sichtbar, doch dafür umso fühlbarer. Sie existiert eigentlich nur auf dem | |
| Papier, ist aber am schwersten zu überwinden. Und diese Ungleichheit, die | |
| tatsächliche Grenzen zwischen Ländern in Bezug auf die Bewegungsfreiheit | |
| ausdrücken, steht nicht auf der Karte. | |
| taz: Warum stellen Sie sie in den Mittelpunkt Ihrer Überlegungen? | |
| Van Houtum: Diskriminierung nach Herkunft ist durch unsere Verfassungen | |
| eigentlich verboten, gehört aber in der Grenzpolitik zum Standard. Die EU | |
| unterscheidet, wer einreisen darf und wer nicht. Ich darf dank meines | |
| niederländischen Passes in mehr als 180 Länder reisen. Wer keinen solchen | |
| Pass hat, muss ein Visum beantragen. Im Prinzip ist dies der Ursprung der | |
| sogenannten Flüchtlingskrise. Hier beginnt eigentlich die undokumentierte | |
| Reise, hier beginnen Schmuggel, Chaos, und Heimlichkeit. | |
| taz: Womit wir bei Ihrem zweiten Kritikpunkt wären: Sie nennen ihn die | |
| „Migrations-Karten-Falle“. Was ist das? | |
| Van Houtum: Die Karten folgen meist dem Narrativ einer „Massen-Migration“, | |
| die uns bedroht. Diese wird dann wie eine feindliche Invasion dargestellt, | |
| sodass Menschen auf der Flucht als Risiko betrachtet werden. In „Free the | |
| map“ zeige ich eine solche Karte, auf der kolossale, rote Pfeile auf | |
| verschiedenen Migrationsrouten überaus drohend und gefährlich auf Europa | |
| zulaufen. Das ist schon deswegen irreführend, weil eine Flucht | |
| normalerweise nicht in geraden Linien verläuft. Wir nehmen diese Karte aber | |
| größtenteils an, ohne uns zu fragen, wer ihre Autor*in ist. Schauen wir | |
| doch nach dem Ursprung, sehen wir, dass sie von Frontex stammt. Wenn man | |
| heutige Migration so darstellt, transportiert man also eigentlich die | |
| Botschaft: „Wir müssen uns verteidigen, egal wie!“ Und das sehen wir. Die | |
| EU Grenze ist die tödlichste Grenze der Welt. | |
| taz: Inwiefern haben die Geschehnisse seit der sogenannten | |
| [2][Flüchtlingskrise von 2015] Sie als Wissenschaftler beeinflusst? | |
| Van Houtum: Natürlich bin ich mit dem Thema Migration schon länger | |
| beschäftigt, aber meine Auseinandersetzung damit wurde durch alles, was ab | |
| dem Jahr 2015 geschah, stark geprägt und inspiriert. Ich denke, dass wir | |
| nicht apolitisch auf die Welt schauen können, sondern immer von Werten und | |
| Normen beeinflusst werden. Das steckt in uns und in unserem Blick. Politik | |
| findet nicht außerhalb von uns statt. Wir sollten uns dessen aber bewusst | |
| sein, und uns fragen: Was ist die politische Botschaft und die | |
| Normativität, die wir mithilfe von Karten, Zahlen oder Sätzen ausdrücken? | |
| Ich denke dabei im Übrigen nicht, dass wir ganz ohne Grenzen auskommen | |
| können. Aber wir müssen über ihre Normativität nachdenken. | |
| taz: Kartografisch gesehen heißt Ihr Schluss: Countermapping. Was kann, was | |
| muss kritische Kartografie leisten? | |
| Van Houtum: Es geht darum, nicht nur Grundgebiete zu zeigen, sondern auch | |
| die Menschen, die dort leben. Und wie diese Menschen und auch Staaten | |
| miteinander verbunden sind. Und auch, wie Menschen die Welt erleben und | |
| erfahren, wie etwa von Migrant*innen auf ihrer Route. Countermapping | |
| existiert natürlich schon länger, es gibt auf diesem Gebiet sehr viel | |
| Bewegung. In „Free the map“ versuche ich, mithilfe von Kartenmaterial, das | |
| ich jahrelang gesammelt habe, einen Überblick darüber zu geben. Das kann | |
| ein Anstoß sein, um auf eine andere Art über Themen wie Migration | |
| nachzudenken. Es sind Bilder, die die Dominanz der bekannten Weltkarte | |
| infrage stellen, die unseren Diskurs noch immer bestimmt. | |
| 7 Jan 2025 | |
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| Tobias Müller | |
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