| # taz.de -- Germanistin über Namen von Orten: „Ortsnamen verwahren ausgestor… | |
| > Die Indogermanistin Kirstin Casemir erforscht den prähistorischen | |
| > Ursprung von Ortsnamen und die Entwicklung der Namen zwischen Rhein und | |
| > Elbe. | |
| Bild: Karte mit Ortsnamenschreibungen um Göttingen vor 1200 | |
| taz: Frau Casemir, seit wann interessieren Sie sich für Ortsnamen? | |
| Kirsten Casemir: Seit 34 Jahren. Angefangen hat es, als ich in Göttingen | |
| Indogermanistik studierte. Als mein damaliger Professor Jürgen Udolph – | |
| heute Leiter unseres auf 25 Jahre angelegten Projekts „Ortsnamen zwischen | |
| Rhein und Elbe“ – ein [1][Namenskunde]-Seminar abhielt, hat es mich | |
| gepackt. In einem kleinen Team haben wir damals die ersten Ortsnamen-Bände | |
| zu Niedersachsen erstellt. | |
| taz: Worin besteht das Faszinosum? Namen aufzulisten klingt erst mal | |
| langweilig. | |
| Casemir: Das ist es ganz und gar nicht, denn ein Ortsname entsteht ja nicht | |
| beliebig. Er steht in engem Zusammenhang mit der Natur oder für die | |
| Gemeinschaft wichtigen Personen. [2][Ortsnamenforschung ist also | |
| Siedlungsforschung]. Um deren Ursprünge und ihren Wandel zu verstehen, muss | |
| man sehr weit zurückgehen. Wir versuchen also anhand der frühesten | |
| schriftlichen Quellen aus dem achten Jahrhundert – Urkunden, Lehnregister, | |
| Rechnungen, Karten – auch auf die prähistorische Zeit zu schließen. Und | |
| abgesehen von einem kleinen Projekt in Bayern erforschen wir als Einzige in | |
| Deutschland derzeit die Namen existierender und früherer Orte, die vor 1600 | |
| schriftlich belegt sind. | |
| taz: Was ist an den Regionen Westfalen, Niedersachsen, Bremen, die Sie | |
| erforschen, so besonders? | |
| Casemir. Einerseits belegen Ähnlichkeiten der aus dem Altsächsischen – der | |
| ältesten Form des Niederdeutschen – stammenden Ortsnamen enge Verbindungen | |
| zu den Nachbarländern: den Niederlanden, England Skandinavien und dem | |
| Baltikum. Die ersten Siedler Englands kamen nicht, wie bisher vermutet, aus | |
| Schleswig-Holstein, sondern aus Niedersachsen. Auch den besonders in der | |
| NS-Zeit gepflegten Mythos, die Germanen seien aus Skandinavien | |
| eingewandert, konnten wir widerlegen. Vielmehr war Niedersachsen | |
| Ursprungs-Siedlungsgebiet der Germanen. Denn dort gibt es Gewässer- und | |
| Ortsnamen, die teils mehrere 1.000 Jahre alt sind. Derart alte Namen finden | |
| sich in Skandinavien nicht. | |
| taz: Ein Beispiel für einen alten niedersächsischen Namen? | |
| Casemir: Die Weser. Das ist derselbe Name wie die Werra, die sich laut | |
| Volksmund irgendwann mit der Weser vereint. Ursache für die Umlautung sind | |
| altertümliche Lautwandel-Vorgänge, die sich kaum noch rekonstruieren | |
| lassen. Was man aber sagen kann: Oft scheinen sich Konsonanten zu | |
| weicheren, leichter auszusprechenden Lauten zu verschleifen. | |
| taz: Werden auch Namen verkürzt? | |
| Casemir: Zum Beispiel Sierße im Kreis Peine. 1141 hieß der Ort | |
| Siegehardishusen (das Haus – hus – des Siegehard). Dann wurde er zu | |
| Sigerdessen (die Esse, also das Heim des Siegert), dann zu Sierdessen, | |
| Sirtzen, und schließlich zum heutigen Sierse/Sierße. In diesem Wort ist | |
| also auch ein ausgestorbener Personenname aufbewahrt. Überhaupt sind | |
| ungefähr 50 Prozent der in Ortsnamen enthaltenen Personennamen nirgends | |
| sonst schriftlich überliefert. Auch andere ausgestorbene Worte sind in | |
| Ortsnamen verwahrt. | |
| taz: Zum Beispiel? | |
| Casemir: Das Wort lâr oder les für eine Siedlung am Waldrand. Es findet | |
| sich in Leer, Wetzlar, Fritzlar, Goslar. In Meppen wiederum steckt der | |
| typisch germanische Gewässername Meppia. Map heißt „schmutzig, trübe.“ | |
| taz: „Meppen“ bedeutet also „Ort am trüben Gewässer“? | |
| Casemir: Das war unsere Vermutung. Wir haben dann geprüft, ob diese Deutung | |
| zur Landschaft passt. Bei Meppen fließen Hase und Ems zusammen. Da ist es | |
| wahrscheinlich, dass durch den Zusammenfluss Aufwirbelungen entstehen, die | |
| das Gewässer eintrüben. Beim um 800 entstandenen Ortsnamen Alferde bei | |
| Hannover wiederum hatten wir „alk“ für „Elch“ vermutet. Aber hatten da… | |
| wirklich Elche in der Region gelebt? Recherchen zeigten: Ja, hatten sie. | |
| Das macht unsere Deutung wahrscheinlicher. | |
| taz: Aber der Elch war kein Massenphänomen. | |
| Casemir: Nein. Er war Merkmal einer bestimmten Gegend. Denn Orte wurden in | |
| der Regel nach Auffälligem, Abweichendem, Bedeutendem benannt. Im Namen | |
| Remse, Gütersloh etwa vermuteten wir den Bärlauch. Also habe ich geschaut, | |
| ob Bärlauch eine so wichtige, Heilpflanze war, dass man einen Ort nach ihm | |
| benannte. | |
| taz: Aber sicher sein können Sie nie. | |
| Casemir. Nein. Wir können uns annähern. Deshalb ist jeder in unserm Team | |
| für einen bestimmten Landkreis zuständig – und möglichst auch für den | |
| benachbarten, damit man ein Gefühl für die Ortsnamengebung der Gegend | |
| bekommt. In Süd-Niedersachsen gibt es zum Beispiel auffallend viele Namen | |
| auf die Endung „husen“ („bei den Häusern“), meist verbunden mit einer | |
| Person – besagtes „Haus des Siegehard“. Im Kreis Wolfenbüttel, nur 100 | |
| Kilometer weiter, gibt es fast keine „husen“-Orte. Bis dahin war diese | |
| „Mode“ anscheinend nicht übergeschwappt. | |
| taz: Wie machen Sie diese akribische Forschung eigentlich zugänglich? | |
| Casemir: Wir geben nach Landkreisen geordnete alphabetische, Herkunft und | |
| Bedeutung erklärende Ortsnamenbücher heraus, die sich an Forschende wie | |
| Laien richten. Von den 50 bis Projektende geplanten Bänden sind 37 fertig: | |
| 20 zu Westfalen und 17 zu Niedersachsen. Derzeit erarbeiten wir den Kreis | |
| Stade. Auch Bremen steht noch aus. Die Bücher sind mit 29 bis 39 Euro | |
| erschwinglich und drei Jahre nach Erscheinen [3][kostenlos online] | |
| einsehbar. | |
| taz: Wie relevant ist solch kleinteilige Forschung in Zeiten von | |
| Globalisierung und Internet? | |
| Casemir: Es ist Grundlagenforschung, die – anders als Wikipedia – | |
| fundiertes, wissenschaftlich beglaubigtes Wissen bietet. Als sich eine | |
| Kollegin probeweise [4][von KI einen Ortsnamen erklären] ließ, kam Unsinn | |
| heraus. Und was die Motivation betrifft: Wir bekommen immer öfter Anfragen | |
| von Städten oder Einzelpersonen. Mir scheint: Je unübersichtlicher die Welt | |
| wird, desto stärker interessieren sich die Leute für ihre direkte Umgebung. | |
| Wenn sie sich da verwurzeln können, fühlen sie sich geborgen. | |
| taz: Und was lässt Sie persönlich durchhalten in diesem Langzeitprojekt? | |
| Casemir: Es macht mir nach wie vor Spaß. Wenn ich, erschöpft von meiner | |
| Arbeit als Personalratsvorsitzende, friedlich am Schreibtisch sitze und | |
| Ortsnamen deute, fühle ich mich glücklich. Aber das ist nicht meine einzige | |
| Freude: In meiner Freizeit nähe ich Quilts, Patchworkdecken. Ich liebe es, | |
| mir Muster auszusuchen und drauflos zu nähen. Dann sortieren sich die | |
| Gedanken. | |
| 30 Dec 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
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