# taz.de -- Kolonialismus Frankreichs: Zeit, über Mayotte zu reden | |
> Der Tropensturm „Chido“ hat im Indischen Ozean nicht nur die Insel | |
> Mayotte verwüstet. Er lenkt auch den Blick auf Frankreichs Kolonialismus. | |
Bild: Nach dem Zyklon Chido auf Mayotte: der französische Präsident Emmanuel … | |
Seinen neuesten Trump-Moment hatte Emmanuel Macron mitten in der Nacht. | |
Nach der Landung auf der von einem Wirbelsturm verwüsteten Tropeninsel | |
Mayotte im Indischen Ozean traf der französische Präsident am späten | |
Donnerstagabend auf entnervte Sturmopfer, und die Diskussion vor laufender | |
Kamera wurde offenbar etwas hitzig. „Ihr seid glücklich, in Frankreich zu | |
sein!“, schreit Macron auf den [1][weltweit verbreiteten Aufnahmen] | |
schließlich die ihn umringenden afrikanischen Zuhörerinnen an. „Wenn dies | |
nicht Frankreich wäre, befändet ihr euch zehntausendmal mehr in der | |
Scheiße!“ | |
Da war er wieder, der koloniale Ton, mit dem sich Frankreich im Allgemeinen | |
und Macron im Besonderen immer wieder in Afrika unmöglich macht. Welten | |
entfernt erscheint der Macron, der vor seinem ersten Wahlsieg 2017 den | |
französischen Kolonialismus in Afrika [2][ein „Verbrechen gegen die | |
Menschlichkeit“ nannte]. Heute regiert Macron von Gnaden der extremen | |
Rechten und vertritt deren Haltung, wonach der Kolonialismus eigentlich für | |
Afrika gut war und ist. Das böse Bonmot seines Vorgängers François | |
Hollande, Macron sei ein Mann mit „aufeinanderfolgenden Überzeugungen“, | |
findet hier seine Illustration. | |
Denn wenn es selbstverständlich wäre, dass Mayotte „in Frankreich ist“, | |
müsste Frankreichs Präsident das nicht in die Nacht hinausbrüllen. Mayotte | |
gehört aber nur deswegen zu Frankreich, weil Frankreich internationales | |
Recht brach, als es sein Kolonialgebiet der Komoren 1975 in die | |
Unabhängigkeit entließ. Das vorhergegangene Referendum im Jahr 1974 war mit | |
knapp 95 Prozent der Stimmen für die Unabhängigkeit ausgegangen – aber die | |
Kololonialmacht hatte nicht „die Bevölkerung“ der Komoren abstimmen lassen, | |
sondern „die Bevölkerungen“, also jede der vier Hauptinseln getrennt: | |
Grande Comore, Anjouan, Mayotte, Mohéli. Auf Mayotte sprach sich eine | |
knappe Mehrheit für den Verbleib bei Frankreich aus. Die Komoren erklärten | |
1975 die Unabhängigkeit ihres gesamten Staatsgebietes, Frankreich behielt | |
aber Mayotte ein und ließ das 1976 durch eine zweite Volksabstimmung | |
bestätigen. | |
Die Komoren erkennen das nicht an. Die UN-Vollversammlung hat Frankreichs | |
Abtrennung Mayottes [3][regelmäßig verurteilt]. Aber vor Ort hat sich daran | |
nichts geändert. Im Gegenteil: Je mehr die unabhängigen Komoren in die | |
Instabilität abdrifteten – mit aktiver Mithilfe aus Frankreich, etwa durch | |
Putschaktivitäten des französischen „Söldnerkönigs“ Bob Denard –, des… | |
enger band Paris „seine“ Insel an sich. | |
## Gleiche Lebensverhältnisse sind eine Illusion | |
Erst kam die Visumpflicht für Komorer, zuletzt wurde Mayotte 2011 nach | |
Frankreich als vollwertiges „Departement“ eingegliedert. Theoretisch | |
bedeutet das für die Bevölkerung, die fast komplett unter der französischen | |
Armutsgrenze lebt, die Herstellung gleicher Lebensverhältnisse inklusive | |
Sozialleistungen nach französischem Standard. Praktisch bleibt das eine | |
Fiktion, aber diese Fiktion lockt komorische und afrikanische Zuwanderer | |
an, denn Frankreich liegt ja jetzt direkt vor der Haustür. | |
In Reaktion wird Frankreich gegenüber Zuwanderung immer repressiver. | |
Mehrere zehntausend Menschen – die Regierung der Komoren spricht von 50.000 | |
– sind auf den Booten, die Migranten illegal von den Komoren über 70 | |
Kilometer gefährliche Meeresstrecke nach Mayotte bringen, ertrunken. Das | |
ist ein krasser Weltrekord: die gesamten Komoren hatten bei der | |
Unabhängigkeit keine 300.000 Einwohner, heute immer noch unter einer | |
Million. | |
Inzwischen betreibt Paris die komplette Abschottung. Mayotte ist in | |
Frankreich zum Experimentierfeld für eine Politik der extremen Rechten | |
geworden. Alle Entscheidungen kommen aus dem fernen Paris; legale | |
„Mahorais“ und illegale Komorer stehen sich in Dauerkonfrontation | |
gegenüber, Mayottes halbe Bevölkerung ist wesentlicher Rechte beraubt. | |
Bevor der Wirbelsturm die meisten Häuser zerstörte, machte die Staatsmacht | |
die informellen Slums, in denen die „illegale“ Hälfte der Bevölkerung leb… | |
regelmäßig platt. Und nun kommt Macron und sagt, ohne Frankreich wäre alles | |
zehntausendmal schlimmer. | |
## Wichtig für den Geheimdienst | |
Warum hat Frankreich Mayotte so hartnäckig behalten? Das Gebiet besteht aus | |
einer großen und einer kleinen Insel, „Grande Île“ und „Petite Île“,… | |
ein paar Korallenriffen. Von der Fläche her ist es kleiner als Berlin und | |
zählte 1975 nur ein paar zehntausend Einwohner, auch heute nur gut 320.000. | |
Aber auf der „Petite Île“ befindet sich die wichtigste Abhörstation des | |
französischen Auslandsgeheimdienstes im Indischen Ozean, 1998 in | |
Zusammenarbeit mit dem BND erweitert und von 300 Fremdenlegionären | |
geschützt, um den gesamten elektronischen Datenverkehr im südlichen Afrika | |
und Teilen des Nahen Ostens abschöpfen zu können. Zusammen mit weiteren | |
widerrechtlich von Frankreich einbehaltenen Inseln rund um Madagaskar und | |
entfernteren Inselgebieten sichert Mayotte außerdem Frankreich im Indischen | |
Ozean ausgedehnte maritime „ausschließliche Wirtschaftszonen“. | |
Mayotte ist ein wesentlicher Bestandteil des französischen Empire, wie auch | |
die Pazifikinseln von Neukaledonien bis Tahiti, Teile der Karibik und als | |
größtes Gebiet die Südamerika-Kolonie Französisch-Guyana. Frankreich | |
[4][bezeichnet sich gern als „Indo-Pazifik-Nation“] und [5][nennt Brasilien | |
einen „Nachbarn“] – lauter geografische Absurditäten, die aber die | |
Grundlage für Frankreichs fortdauernden, in Europa heute einzigartigen | |
Weltmachtanspruch darstellen. | |
Auf internationaler Ebene spricht Frankreich darüber nicht und auf | |
europäischer Ebene wird darüber nicht gesprochen. Aber es ist Zeit, darüber | |
zu reden. Denn solange Macron auf Mayotte herumpöbeln kann wie ein | |
Sonnenkönig, der seinen Untertanen mangelnde Dankbarkeit vorwirft, bleibt | |
der europäische Kolonialismus in Afrika real. Und solange er besteht, wird | |
Europa Afrika nicht auf Augenhöhe begegnen können. | |
23 Dec 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://x.com/RnaudBertrand/status/1869951891918229742 | |
[2] https://www.ina.fr/ina-eclaire-actu/emmanuel-macron-algerie-candidat-presid… | |
[3] https://digitallibrary.un.org/record/165500 | |
[4] https://www.diplomatie.gouv.fr/IMG/pdf/en_a4_indopacifique_synthese_rvb_cle… | |
[5] https://fr.wikipedia.org/wiki/Fronti%C3%A8re_entre_le_Br%C3%A9sil_et_la_Fra… | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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