| # taz.de -- Schriftstellerin Verena Boos: „Das sind unsere blinden Flecken“ | |
| > Im Roman „Die Taucherin“ beschäftigt sich Verena Boos mit | |
| > deutsch-spanischer Erinnerungpolitik. Sie interessiert, wer die Hoheit | |
| > über Geschichte hat. | |
| Bild: Das ehemalige Fischerviertel El Cabanyal, das teilweise abgerissen werden… | |
| Die doppelte Geschichte liegt bereits im Namen: Faller ist ein weit | |
| verbreiteter Schwarzwälder Familienname, bekannt nicht zuletzt durch die | |
| Fernsehfamilie des SWR. Gleichzeitig beschreibt der Begriff faller auch die | |
| Personen, die an den Fallas teilnehmen, dem zweitgrößten spanischen | |
| Volksfest, das jeden März in Valencia gefeiert wird. In diesem | |
| Spannungsfeld siedelt Verena Boos, die selbst aus dem Schwarzwald stammt | |
| und lange in Valencia lebte, ihren dritten Roman, „Die Taucherin“, an. | |
| Erneut beschäftigt sich die Autorin mit einem wenig beleuchteten Thema: den | |
| Verstrickungen von Nazideutschland und der [1][Franco-Diktatur] und dessen | |
| Auswirkungen auf die Privatleben der Menschen. | |
| taz: Bereits in Ihrem ersten Roman „Blutorangen“ von 2015 sind Sie in die | |
| Abgründe der deutsch-spanischen Beziehungen getaucht, jetzt widmen Sie sich | |
| dem Thema erneut. Warum? | |
| Verena Boos: Nach meinen Recherchen für „Blutorangen“ hatte ich noch | |
| unglaublich viel Stoff übrig. Motiviert hat das Buch zudem das | |
| Wiedererstarken faschistischer Tendenzen in Europa und die Tatsache, dass | |
| immer weniger Wissen um Geschichte vorhanden ist. Es gibt Nischen der | |
| deutschen Geschichte, die in Spanien bekannter sind als in Deutschland – | |
| zum Beispiel, dass deutsche Nazis in Dénia lebten. | |
| taz: Der rote Faden Ihres Romans ist allerdings ein Kriminalfall: Amalia | |
| reist aus dem Schwarzwald nach Valencia, weil ihre langjährige Freundin | |
| Marina verschwunden ist. | |
| Boos: Ich wollte gerne über Frauen in diesem Alter, Mitte bis Ende 40, | |
| schreiben, darüber, [2][wie wir ohne Kinder leben] und Wahlfamilien | |
| pflegen, wie wir uns – gerade auch körperlich – durch die Welt bewegen. | |
| „Die Taucherin“ ist nicht autobiografisch, aber natürlich ist Amalia eine | |
| Art Alter Ego für mich: Sie ist im selben Alter, hat an denselben Orten | |
| gelebt, eine ähnliche Bildungsbiografie. | |
| taz: Wie kommt da das deutsch-spanische Verhältnis in die Handlung? | |
| Boos: Auf ihrer Suche nach Marina kommt Amalia in Valencia einem | |
| Familiengeheimnis auf die Spur, das zugleich zu weitreichenderen | |
| historischen Verbrechen führt. In „Die Taucherin“ betrifft das Spanien, | |
| aber es gilt für den Faschismus in vielen Ländern und Machtsysteme wie die | |
| katholische Kirche. | |
| taz: Neben diesem historischen Verbrechen erfährt man in „Die Taucherin“ | |
| auch sehr viel über die aktuellere Geschichte und das Stadtgefüge | |
| Valencias. | |
| Boos: Ich wollte mit dem Roman gerne Pfade durch die Stadt zeigen, aber | |
| Valencia eben nicht als Hochglanz-Tourispot erzählen, sondern das Cabanyal | |
| als zweites Herz von Valencia zeigen. Das Cabanyal entstand als Fischerdorf | |
| direkt an der Küste, war lange ein verarmtes Quartier, bietet aber | |
| wunderschöne Jugendstilarchitektur. Als das Viertel für eine große | |
| Straßenschneise teilweise abgerissen werden sollte, begann ein Kampf um | |
| seinen Erhalt. | |
| taz: Im Jahr 1997 entschied [3][die rechte Partei Partido Popular], einen | |
| Großteil von El Cabanyal abzureißen. Anwohner*innen und | |
| Denkmalschützer*innen demonstrierten massiv gegen diesen Beschluss. In | |
| Ihrem Roman wird dieser langjährige Kampf anhand von Marina, die selbst im | |
| Viertel lebt, und dem von ihr entfremdeten Bruder erzählt, der für die | |
| Stadterneuerung ist. | |
| Boos: In den zwei Jahren, die ich in Valencia gelebt habe, habe ich diese | |
| Auseinandersetzungen mitbekommen. Die damalige Bürgermeisterin Rita Barberá | |
| [von 1991 bis 2015, Anm. d. Red.] ist mit ihren brachialen Plänen | |
| gescheitert. Die Stadt ist voller Kontraste zwischen dem Cabanyal mit | |
| seinen eher einfachen Leuten am Meer, das sich seit zwei Jahrzehnten | |
| gentrifiziert und inzwischen als hip gilt, und der stärker von der | |
| Bourgeoisie, der Kirche, dem Handel geprägten Kernstadt. Anhand dieser | |
| Kontraste lässt sich gesellschaftlich und historisch viel erzählen. | |
| taz: Auf der persönlichen Ebene wird in vielen Rückblenden Amalias und | |
| Marinas Freundschaft geschildert. Marina ist nicht frei von politischen | |
| Widersprüchen; Amalia denkt über ihre emanzipierte Freundin nach, die sich | |
| von den franquistischen Sitten der Familie gelöst hat und trotzdem die | |
| spanisch-traditionellen Fallas feiert und damit ein konservatives | |
| Frauenbild. | |
| Boos: Das sind blinde Flecken, die wir alle haben. Man hat einen hehren | |
| Anspruch an sich selbst, aber macht dann doch bestimmte Bräuche mit, obwohl | |
| sie, wenn man rational darüber nachdenkt, nicht gänzlich zu einem passen. | |
| Als Rottweilerin kenne ich diese Diskrepanz zwischen intellektuellem | |
| Anspruch und emotionaler Verbundenheit bei der Fastnacht statt den Fallas. | |
| Amalia wie Marina suchen nach Zugehörigkeit, weil sie sich in ihrer Familie | |
| fehl am Platz fühlen und trotzdem nach Akzeptanz streben. Es ist eine | |
| Auseinandersetzung mit der Herkunft, die von Sehnsucht und Ablehnung | |
| zugleich geprägt ist. | |
| taz: Sobald Amalia in Valencia landet, wird sie wie eine andere Person, | |
| „keine komplette Verwandlung, eher eine Verschiebung“, wie sie es | |
| beschreibt, weil sie mehr lacht, lauter spricht, geselliger ist. Was | |
| verändert sich, wenn man die Sprache ändert? | |
| Boos: Ich empfinde das als eine große Unbeschwertheit. Das hat nicht nur | |
| mit Spanien zu tun, ich habe auch länger in Italien und Großbritannien | |
| gelebt. Man kann sich von ein paar Zwängen, die ansozialisiert wurden, | |
| befreien. Das Leben meiner spanischen Freunde ist in vielerlei Hinsicht | |
| beschwerlicher als meines in Deutschland, ich wollte das nicht komplett | |
| eintauschen. Aber es gibt diese Verschiebung. In mehreren Kulturen | |
| beheimatet zu sein, ist ein Privileg. | |
| taz: Zum Abschluss eine Frage, die sich Ihre Protagonistin Amalia selbst | |
| stellt: „Was erinnern wir? Warum? Und welche Erlebnisse pflanzen uns die | |
| entscheidenden Erinnerungen ein?“ | |
| Boos: Es geht mir darum, wie innerhalb von Familien Geschichten erzählt | |
| werden und auch von wem, wie sich dadurch bestimmte Mythen etablieren und | |
| wer die Hoheit über die Geschichten hat. Wie im Erzählen das, was nicht | |
| zutage treten soll, verschleiert und verborgen werden kann. Mit eingebaut | |
| ist auch, dass Amalia keine zuverlässige Erzählerin ist. Es geht schon | |
| damit los, dass jeder von uns Situationen durch die eigenen Augen ganz | |
| unterschiedlich wahrnimmt. Erinnerungen verschieben sich mit jedem | |
| Wiedererzählen, bis sich nicht mehr überprüfen lässt, was „die Wahrheit“ | |
| jemals war. Erinnerungen verändern sich, und somit auch die Geschichte | |
| selbst. | |
| 3 Dec 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Isabella Caldart | |
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