| # taz.de -- Roman von Sara Mesa: Der Archipel Familie | |
| > Die spanische Autorin Sara Mesa beschreibt in ihrem Roman Mechaniken der | |
| > bürgerlichen Familie. Sie folgt Spuren, die die autoritäre Erziehung | |
| > hinterlässt. | |
| Bild: Die spanische Autorin Sara Mesa | |
| Der Überlieferung nach war es Friedrich Engels, der die Familie als | |
| Keimzelle der bürgerlichen Gesellschaft benannte. Heute wird dieses Bild | |
| gerne von Apologeten derselben herangezogen, um traditionellen | |
| Familienmodellen einen Adelstitel zu verleihen. | |
| In Wirklichkeit meinte Engels, dass die Familie die kleinste soziale | |
| Einheit ist, in der sich gesellschaftliche Strukturen, | |
| Herrschaftsverhältnisse und ökonomische Bedingungen widerspiegeln. Die | |
| Familie ist Bollwerk gegen die Härten der Klassengesellschaft und die | |
| Wohnung ihre Trutzburg, aus der man die Welt durch schmale Schießscharten | |
| hindurch betrachtet. | |
| Auch in Sara Mesas neuem Roman scheint nach außen alles wie bestellt: Ein | |
| prinzipienfester Humanist als Vater, der statt Marienbildern Gandhi an der | |
| Wohnzimmerwand verehrt. Eine Mutter, die mit der dem Vater abgehenden | |
| Fürsorge für die Anerziehung der von ihm verlangten Tugendhaftigkeit sorgt. | |
| Eine Familie, die, wie um ihre Rechtschaffenheit noch zu unterstreichen, | |
| die Nichte der Mutter adoptiert, als diese zur Waise wird. | |
| Zwei Töchter, zwei Söhne und eine kleine, aber ausreichende Wohnung. Eine | |
| perfekte bürgerliche Fassade, die gar keine zu sein scheint. „In dieser | |
| Familie gibt es keine Geheimnisse“, schwört der Vater. Doch was zunächst | |
| nach anti-autoritärer Erziehung klingt, entpuppt sich schnell als das | |
| Gegenteil: In dieser Familie bleibt den Mitgliedern zwischen all der | |
| verordneten Durchsichtigkeit kaum die Luft zum Atmen, denn aus dem Archipel | |
| Familie gibt es kein Entkommen. | |
| ## Erzwungene Gemeinschaft | |
| Hat sich die preisgekrönte spanische Autorin in früheren Erzählungen | |
| bereits [1][den Beklemmungen des Dörflichen und Ländlichen] gewidmet, | |
| seziert Mesa nun eine andere erzwungene Gemeinschaft: die kleinbürgerliche, | |
| dysfunktionale Familie. Wenn Damián, der Vater, von seiner Arbeit in der | |
| Kanzlei nach Hause kommt, wird er zum absolutistischen Gebieter, auf den | |
| sämtliche Machtlinien zulaufen. Was ihm in seiner Arbeit in der Kanzlei an | |
| Erfolg und Anerkennung verwehrt bleibt, erwartet er zu Hause – | |
| widerspruchslos. | |
| Zum Weinen schließt er sich in sein Arbeitszimmer ein und verbietet seinen | |
| Kindern eigene Hausschlüssel. „Keiner hatte eine Vorstellung vom Leben | |
| jenseits dieser Mauern“ wird Rosa, die leibliche Tochter, als Erwachsene | |
| feststellen. | |
| Damián ist bereits ein kleines Vorhängeschloss am Tagebuch der | |
| Adoptivtochter Anlass genug, um an ihr Gewissen zu appellieren und sie als | |
| Gegenbeweis für den vermeintlichen Verrat zum lauten Vorlesen zu nötigen: | |
| „Martina, Martina, wann wirst du uns endlich vertrauen?“ Es ist die | |
| Diktatur einer alles durchdringenden Moral, die bei der kleinsten | |
| Verletzung in unvorhersehbare Bestrafung mündet. | |
| Das patriarchale Kontrollregime wird angetrieben von Scham und Schuld, denn | |
| die Herrschaft des Vaters ist an vielerlei Stellen verdeckt. Sie kommt ohne | |
| körperliche Gewalt aus, ohne je die Stimme zu erheben und führt dennoch zu | |
| unbedingtem Gehorsam – nicht nur der Kinder, sondern auch der Mutter. Mesa | |
| beschreibt die Mechaniken der bürgerlichen Familie mit großer Genauigkeit, | |
| doch viel mehr interessiert sie sich für das Innenleben der einzelnen | |
| Familienmitglieder. | |
| Schonungslos zeichnet sie die Effekte nach, die eine solche Erziehung auf | |
| die Persönlichkeit eines erwachsenen Menschen haben. „Es gab etwas in ihrer | |
| Vergangenheit, problematische Sachen von gläserner Beschaffenheit“, bemerkt | |
| Martina viel später. Als Erwachsene sind Rosa und ihre Schwester leicht | |
| manipulierbar, haben vor allem männlichen Autoritäten kaum etwas | |
| entgegenzusetzen und sind ständig bemüht, die Bedürfnisse ihres Gegenübers | |
| zu lesen und sich anzupassen. | |
| ## Überlebenstaktiken | |
| Anders verhält es sich mit den Brüdern Damián Jr. und Aquilino. Zumindest | |
| einer hat früh gelernt, dass es bei einer derart schiefen Autorität wie der | |
| des Vaters besser ist, ihr keine allzu große Bedeutung beizumessen und sich | |
| stattdessen wieselhaft daran vorbeizuhangeln. Diese Taktik erweist sich als | |
| erfolgreich und wird vom Vater (und später auch von der Gesellschaft) auf | |
| eine Weise honoriert, die Rosa und Martina niemals offensteht. | |
| Engels begriff die bürgerliche, monogame Familie als Instrument zur | |
| Sicherung männlicher Alleinherrschaft und Mesa beschreibt genau, wie trotz | |
| des gemeinsamen Aufwachsens unterschiedliche Menschen aus den vier | |
| Geschwistern werden und wie patriarchale Strukturen innerhalb und außerhalb | |
| der Familie dafür verantwortlich sind, dass es die Töchter um einiges | |
| schwerer haben, zu resilienten Persönlichkeiten zu werden als ihre Brüder. | |
| Mesa verzichtet auf eine klassische Romandramaturgie, springt von Szenen in | |
| der Kindheit zu Ereignissen, die Jahrzehnte später stattfinden. Die Kapitel | |
| lesen sich eher wie eigenständige Kurzgeschichten und nehmen zahlreiche | |
| Perspektiven in und um die Familie herum ein. „Die Familie“ ist weniger | |
| Roman als Röntgenbild einer Familie und Mesa geht mit der Akribie einer | |
| Psychologin vor. Geheimnisse darf es nicht geben in dieser Familie – auch | |
| nicht im literarischen Modus. | |
| Alles scheint aufgedeckt und anfangs kann einem das etwas schematisch | |
| vorkommen: Showing und Telling sind fein säuberlich auf Vergangenheit und | |
| Zukunft aufgeteilt, wechseln sich zu Beginn fast ab, jede erzählte | |
| Erinnerung scheint wie eine Handreiche, sich einen Reim auf das spätere | |
| Verhalten der Figuren machen zu können. Doch in genau diesem Modus liegt | |
| auch der Reiz, denn mit Fortschreiten der Erzählung fügen sich die | |
| Innenleben mosaikhaft zusammen. Als hätte man Einblick in jahrelange | |
| Therapieaufzeichnungen, fügt sich alles zu einem Bild, eine Nähe entsteht | |
| und man möchte den Figuren am liebsten ihren eigenen Roman zu lesen geben, | |
| um ihnen dabei zu helfen, sich und ihre Muster zu verstehen. | |
| „Die Familie“ endet offen, eine Lösung für die Schwierigkeiten im Leben d… | |
| Geschwister tut sich nicht auf. Gemäß Friedrich Engels täte wohl die | |
| Abschaffung von Privateigentum und die Überwindung der Institution Familie | |
| als Keimzelle der bürgerlichen Ordnung not. Das fordert Mesa zwar nicht, | |
| legt mit „Die Familie“ jedoch einen Roman mit hohem | |
| Identifikationspotenzial vor, der mit unerbittlicher Genauigkeit freilegt, | |
| welche tiefgreifenden Schäden man zeitlebens von dieser erzwungenen | |
| Gemeinschaft davontragen kann. | |
| 24 Apr 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Yannic Walter | |
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