| # taz.de -- Agitation Free wieder auf der Bühne: Die historische Alternative z… | |
| > Sich mit Spaß der Vergangenheit stellen: Agitation Free präsentieren sich | |
| > in Berlin mit geschichtssattem, schön gegenwärtigem Krautrock. | |
| Bild: Die Haare heute eher kurz: Agitation Free | |
| Dass sich hinterher niemand beschweren kommt – bitte sehr – der | |
| Warnhinweis: Wer auf Alter allergisch reagiert, ist in den folgenden Zeilen | |
| nicht gut aufgehoben. | |
| Aber es ist halt auch so, dass andererseits, wie kürzlich zu lesen war, die | |
| schon etwas betagteren drei Herren Gregor Gysi, Bodo Ramelow und Dietmar | |
| Bartsch mit ihrer Kandidatur bei den Wahlen die Linke aus der Krise | |
| raushauen sollen. Für diese [1][„Mission Silberlocke“] bringen die drei als | |
| politisches Kampfgewicht zusammen stolze 210 Jahre auf die Waage. Wieso | |
| also sollten nicht auch Agitation Free mit ihrer weit ausschweifenden und | |
| geschichtssatten Instrumentalmusik in der Berliner Musikbrauerei die | |
| Rockmusik retten, wenigstens für diese Nacht? | |
| Zuerst einmal musste man aber durch die Kellerräume und dann wieder hoch | |
| rauf durch eine enge Wendeltreppe in den Konzertsaal in dieser ehemaligen | |
| Brauerei, die in ihrem ramponierten und von der Zeit zerschliffenen Gemäuer | |
| einen morbiden Charme hat. Für Teile des Publikums war diese Treppe bereits | |
| eine abenteuerliche Herausforderung. Proppenvoll war es dann im Saal. Vorn | |
| waren ein paar Stuhlreihen aufgestellt (Geschichte will auch mal | |
| ausgesessen sein), hinten und um den Tresen wurde gestanden. Hier wie da | |
| sah man in der allergrößten Mehrzahl graues und weißes Haar, das gleich | |
| zeigte, dass man hier die Berliner Band durchaus bereits von früher her | |
| kennt. | |
| Früher aber, Anfang der Siebzigerjahre, da saß man in Westdeutschland bei | |
| solchen Konzerten nicht auf Stühlen. Da kauerte man in seinen Batik-Shirts | |
| und den Schlaghosen auf dem Boden und wartete geduldig, bis die auf der | |
| Bühne bei ihren lang ausgespielten Improvisationen, den experimentellen | |
| Erkundungsflügen und psychedelischen Glasperlenspielen auch mal auf Gold | |
| stießen. | |
| [2][Krautrock] wurde herablassend dieses Tun genannt, das sich in der Tat | |
| anders anhörte und vielleicht wirrer als der angloamerikanische | |
| Durchschnittsrock jener Zeit. Man hockte also. Man wartete. Immer aber | |
| stand vorn an der Bühne eine Frau mit weitem Rock und bunten Tüchern, die | |
| sich bereits ausdrucksvoll wiegte in dieser Musik, die nun doch langsam auf | |
| einen ekstatischen Höhepunkt hinarbeitete. Wenn dann der Gitarrist seine | |
| langen Haare dazu schüttelte, sah das natürlich toll aus und so mitreißend, | |
| dass man sich endlich aufraffte und vom Boden hoch auch auf die Füße kam. | |
| Der Gitarrist war immer ein Mann. Auch im westdeutschen | |
| Durchschnittskrautrock waren Frauen kaum zu finden. | |
| ## Zwischendurch vergessen, heute hip | |
| Lutz „Lüül“ Ulbrich, Jahrgang 1952, trägt seine Haare heute mittellang. … | |
| schüttelte sie auch nur sachte an diesem Abend in der Musikbrauerei. Und er | |
| kennt die [3][Konjunkturen des Krautrockbegriffs]. Mit seiner Band | |
| Agitation Free zählte er zur ersten Generation, alle paar Jahrzehnte | |
| reformierte sich die Band wieder oder brachte ein neues Album heraus, | |
| zuletzt vergangenes Jahr mit „Momentum“, das prinzipiell aber gar nicht so | |
| anders klingt als das erste Album der Band, „Malesch“ von 1972. | |
| Zwischendurch ist der Krautrock mal vergessen gewesen, heute gilt es als | |
| Qualitätsbegriff und hip. | |
| In Tokio stand in einem Wachsfigurenmuseum mal [4][Lüüls wächsernes | |
| Ebenbild], aber allzu viel einbilden sollte man sich davon in Deutschland | |
| nicht, da werden draußen auf der Straße die Leute auf die Frage nach | |
| Agitation Free bestenfalls mit den Achseln zucken. Spezialwissen für | |
| Musiknerds und die paar Altgedienten, die sich drinnen in der Musikbrauerei | |
| sammelten. | |
| Vorn an der Bühne stand auch wieder diese eine Frau, kein weiter Rock, | |
| keine bunten Tücher und nicht so frei ausschweifend … aber sie tanzte zu | |
| der zärtlichen, einen sanft umfassenden Musik der Band. Ruhig pulsierte sie | |
| durch Raum und Zeit, waberte ätherisch und fand sich immer wieder in einer | |
| kleinen verschmitzten Melodie. | |
| Selbstverständlich wurde die Rockmusik gerettet. In dieser Nacht. In diesem | |
| Moment. Weil man sich gleich viel gegenwärtiger fühlen durfte in der Musik. | |
| Agitiert. Es war ja nicht nur die Frau, es wurden immer mehr, die sich | |
| wiegten in der Musik. Wiegen aber ist tanzen. Und wer tanzt, der lebt. | |
| 2 Dec 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Altvordere-sollen-Linke-retten/!6045918 | |
| [2] /Buch-ueber-Krautrock/!5784094 | |
| [3] /Buch-ueber-Krautrock/!5029322 | |
| [4] /ZWISCHEN-DEN-RILLEN/!217223/ | |
| ## AUTOREN | |
| Thomas Mauch | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Kolumne Großraumdisco | |
| wochentaz | |
| Krautrock | |
| Popmusik | |
| Experimentelle Musik | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Kolumne Großraumdisco | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| 40 Jahre Goldene Zitronen: Wenn schon nicht ewig jung, dann halt in Würde alt | |
| Es ist die Band, die einfach immer weitermacht, mit immer neuen Strategien: | |
| Die Goldenen Zitronen feiern ihr 40-Jähriges auf Tour. | |
| Probesitzen zum Welttoilettentag: Mal müssen müssen alle mal | |
| In der Berliner Heinrich-Böll-Bibliothek geht es derzeit nicht nur um | |
| Bücher, sondern auch ums Natürlichste der Welt: den Toilettengang. | |
| Festival Feuerspuren in Bremen: Das pure Erzählen | |
| In einem der internationalsten Ortsteile Bremens gibt's seit 29 Jahren die | |
| „Feuerspuren“: Das Festival bezaubert durch die Kunst des Fabulierens. | |
| Kritik an der taz: Wer ist mal links gestartet und heute bürgerlich? | |
| Auf einer Lesung in Hamburg über Medienkritik von links bekam die taz ihr | |
| Fett weg. Immerhin gab's Gummibärchen. |