# taz.de -- Festival Feuerspuren in Bremen: Das pure Erzählen | |
> In einem der internationalsten Ortsteile Bremens gibt's seit 29 Jahren | |
> die „Feuerspuren“: Das Festival bezaubert durch die Kunst des | |
> Fabulierens. | |
Bild: Erzählen im Hühnerstall: Die Geschichte, mündlich vorgetragen, steht i… | |
Beeindruckende Schwaden räuchern die mit gigantischen Buntpapiergeschöpfen | |
gesäumte Bremer Lindenhofstraße. Es wirkt, als trügen die | |
Dönerladenbesitzer, die vor ihren Türen große Holzkohlegrills aufgebaut | |
haben, einen informellen Qualm-Wettbewerb aus, am Rande des Festivals, aber | |
eben auch irgendwie passend. Denn das Festival heißt „Feuerspuren“. | |
Und während im Laufe des Nachmittags das Novembergrau in Dunkelheit | |
übergeht, findet auf drei Bühnen tatsächlich auch Pyro-Akrobatik statt. Die | |
gehört dazu. Aber die Feuerschlucker sind hier genauso wenig wie die | |
Köftebrutzler und der Lampionlauf, bei dem die Buntpapierskulpturen als | |
Lichtwesen erblühen, die Hauptattraktion. | |
Eher geben sie, als stimmungsvolle Rahmung, Hinweise darauf, dass sich auch | |
nichtsprachlich das Anliegen der „Feuerspuren“ verwirklichen lässt. Das | |
nämlich heißt: erzählen. Zwar haben sie mal, lang, lang ist’s her, als | |
säkularer Stadtteillaternenzug begonnen. | |
Aber schon um die Jahrhundertwende hatten sie sich in ein Erzählfestival | |
verwandelt, das die Läden und Einrichtungen entlang der Straße als Bühnen | |
nutzt, das Nagelstudio, die Recyclingbörse und den Elektrohändler, bei dem | |
ganz früher noch die Fernseher während der Auftritte liefen. | |
## Oh, wie schön ist Lindenhof | |
Sprachen, die einem hier begegnen, sind Niederländisch, Spanisch, Deutsch, | |
Kurdisch, Platt, Türkisch und Leichtschwäbisch. Es ist ein echt | |
internationales Festival. Alles andere wäre im Ortsteil Lindenhof auch | |
befremdlich: Mehr als die Hälfte seiner Einwohner*innen hat einen | |
nichtdeutschen Pass, [1][62, 5 Prozent einen Migrationshintergrund]. Das | |
passt. Denn, wenn einer eine Migration tut, dann kann er was erzählen. | |
Erzählen ist vielleicht diejenige Kunst, mit der das Menschsein beginnt: | |
„Weil die Geschichte unseres Lebens / Unser Leben wird“, [2][beantwortet | |
die amerikanische Lyrikerin Lisel Mueller die Frage], warum wir unbedingt | |
Storys zum Besten geben wollen. Das heißt aber eben auch: Alle können | |
erzählen, sofern sie leben. Jede, jedes, jeder. | |
Und so auch hier. Klar, am Vorabend, „Die Lange Nacht des Erzählens“, das | |
ist eine Gala, bei der Leute auftreten, die beruflich Geschichten vortragen | |
und darin auch eine gewisse Virtuosität entwickelt haben. | |
Das ist wunderbar. Aber am Sonntag, auf der „Straße voller Geschichten“, | |
dem Herzstück des Festivals, treten Profis und Normalos gleichberechtigt | |
auf, 51 Einzel-Erzähler*innen, plus Gruppen wie Deutschkurse, Theater- und | |
Tanzensembles. | |
Waschsalon, Bauernhof – [3][ja, in diesem alten Hafen- und | |
Werftarbeiterstadtteil gibt’s einen Bauernhof!] –, Oldtimer-Bus, o Gott, | |
nee, in den quetschen wir uns jetzt nicht. Die 15 Locations sind an diesem | |
Sonntag alle bei allen vier Zeit-Slots überfüllt, auf eine fast euphorische | |
Art. | |
Und das eben nur, weil da eine Person – manchmal hängt sie ein Plakat auf | |
oder hat eine Puppe, aber meist ist es das pure Erzählen – ihrem Publikum | |
gegenübertritt. Das kauert auf dem Teppich der nach dem Sufi-Dichter Rumi | |
benannten Moschee. Es sitzt rund ums Feuergestell der eigens aufgebauten | |
Erzähl-Jurte. Es knubbelt sich auf den Bierbänken im winzigen Fahrradladen. | |
## Döntjes, Märchen und Biografien | |
Erzählt werden Märchen, wahre Biografien, Legenden, Parabeln, [4][Döntjes] | |
und Stadtteilgeschichten. Erzählfestivals definieren sich sonst oft übers | |
Genre – wie die gigantesken Berliner Märchentage – oder eine Funktion, wie | |
die „Tage des therapeutischen Erzählens“ in Koblenz. Nicht so die | |
„Feuerspuren“. | |
Sie sind, auf 300 Meter räumlich beschränkt, offen für alles und alle. | |
Dadurch zeigt sich hier das Erzählen als Medium, das Grenzen überfliegt und | |
unterwandert. Eins, das Gemeinschaft möglich macht. | |
Die distinktionsbedürftige Kulturschickeria trifft man hier nicht. Aber | |
letztlich sind die „Feuerspuren“ in ihrer Graswurzeligkeit das einzige | |
literarische Ereignis der Stadt, [5][das es nicht anderswo ganz ähnlich | |
auch gibt]. Und normalerweise hätte dieses Festival der Hauptgrund sein | |
müssen, weshalb die Unesco [6][Bremen zur City of Literature] ernannt hat. | |
Wenn die Stadt es nicht bei der Bewerbung zu erwähnen vergessen hätte. | |
18 Nov 2024 | |
## LINKS | |
[1] http://www.statistik-bremen.de/tabellen/kleinraum/ortsteilatlas/atlas.html | |
[2] https://www.best-poems.net/lisel_mueller/why_we_tell_stories.html | |
[3] /!713161/ | |
[4] https://www.dwds.de/wb/D%C3%B6ntjes | |
[5] /Bremen-als-City-of-Literature/!5993952 | |
[6] https://www.bremen.de/kultur/literatur#/ | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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