# taz.de -- Human Rights Watch zum Krieg in Gaza: Die zweite Zwangsvertreibung | |
> Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wirft Israel „ethnische | |
> Säuberungen“ in Nordgaza vor. Sie fordert Sanktionen und ein | |
> Waffenembargo. | |
Bild: Palästinensische Familien, die aus Jabalia im Gazastreifen vertrieben wu… | |
Berlin taz | „Das Erste, woran ich gedacht habe, war die Nakba“, sagt der | |
49-jährige Doktor Hassan, der mit seiner Familie am 11. Oktober 2023 von | |
Israels Armee aus der Nähe von Jabalia im Norden des Gazastreifens | |
vertrieben wurde. Vier Tage nach dem Angriff der Hamas auf Israel, bei dem | |
1.195 Menschen starben, darunter 815 Zivilist:innen, und nach den ersten | |
israelischen Bomben auf Gaza. Die Nakba ist das arabische Wort für die | |
„Katastrophe“ und ein Synonym für die Vertreibung von | |
Palästinenser:innen bei der Staatsgründung Israels. Hassan zieht eine | |
Parallele zu den Ereignissen der Jahre 1947 und 1948. Er und seine Familie | |
mussten nach Khan Younis im Süden fliehen. Dort lebt er mit 35 Angehörigen | |
auf 100 Quadratmetern im Haus eines Verwandten. | |
So wie ihnen erging es seit Kriegsbeginn vielen Bewohner:innen Gazas. | |
Das belegt [1][ein neuer, 154-seitiger Bericht von „Human Rights Watch]“ | |
(HRW), den die Menschenrechtsorganisation am Donnerstag veröffentlicht hat. | |
Sie wirft Israel systematischer Vertreibungen und „ethnische Säuberungen“ | |
vor, und hat dafür Belege gesammelt. | |
Hassan und 38 weitere Betroffene beschreiben in Interviews, wie sie | |
systematisch vertrieben oder durch israelische Bomben zur Flucht gezwungen | |
wurden. Er hatte nicht die Absicht, „alles hinter mir zu lassen, für das | |
ich gearbeitet habe“, zitiert ihn HRW. „Aber dann haben die Bombardierungen | |
angefangen und unsere Häuser wurden zerstört, ich musste meine Familie | |
beschützen. Deshalb bin ich letztendlich gegangen.“ | |
Laut UN wurden 1,9 Millionen Menschen in Gaza aus ihren Häusern vertrieben, | |
bei einer Gesamtbevölkerung von 2,2 Millionen. Also 90 Prozent. Israels | |
Kriegsführung sind nach Angaben der UN bisher mehr als 45.000 | |
Palästinenser:innen zum Opfer gefallen, fast 70 Prozent davon Frauen | |
und Kinder. Die Zahl könnte aber auch weitaus höher sein. Manche | |
Expert:innen schätzten, verstärkt [2][durch Mangel an Medizin oder | |
Nahrung], könnten sogar rund 200.000 Menschen gestorben sein, hieß es im | |
Fachmagazin [3][The Lancet]. | |
## Die Pflichten einer Besatzungsarmee | |
Nach internationalem Recht ist Israel in Gaza eine Besatzungsmacht – das | |
hat jüngst auch der Internationale Gerichtshof in Den Haag bestätigt. Als | |
solche muss sich Israel an das Humanitäre Völkerrecht halten, auch | |
Kriegsrecht genannt. Vertreibungen von Zivilist:innen sind demnach | |
nicht nur verboten, sondern gelten sogar als Kriegsverbrechen, wenn sie | |
absichtlich durchgeführt oder erzwungen werden. Das regelt Artikel 49 der | |
Genfer Konventionen, gegen den Israel verstoße, so HRW. | |
Israels Regierung unter Benjamin Netanjahu argumentiert, bei den | |
Vertreibungen handele es sich um Evakuierungen – notwendig, um die | |
Zivilbevölkerung [4][vor der „Militäroperationen“ gegen die Hamas] zu | |
schützen. Evakuierungen zu diesem Zweck sind rechtlich erlaubt. Doch HRW | |
hält die Behauptung, die Menschen würden evakuiert, für nicht haltbar. Denn | |
dafür müsste Israel als Besatzungsmacht bestimmte Voraussetzungen erfüllen: | |
die Zivilbevölkerung vor Angriffen warnen und Sicherheitszonen markieren, | |
zum Beispiel. Israels Armee gibt an, sie hätte das regelmäßig getan. Laut | |
HRW stimmt das so nicht. | |
HRW hat Fotos, Videos und Satellitenaufnahmen von Sicherheitszonen und 184 | |
„Evakuierungsbefehle“ gesichtet, die zwischen Oktober 2023 bis September | |
2024 auf den offiziellen Social-Media-Kanälen Israels veröffentlicht, per | |
Flyer aus der Luft abgeworfen oder per SMS an die Bevölkerung Gazas | |
ausgesendet wurden. Doch viele Warnungen wurden, wenn überhaupt, viel zu | |
kurzfristig ausgesprochen, waren missverständlich formuliert oder haben die | |
Bevölkerung durch Ausfälle des Telekommunikationsnetzwerks überhaupt nicht | |
erreichen können. Die vermeintlichen Evakuierungsmaßnahmen würden die | |
Bevölkerung sogar gefährden, stellt HRW fest. | |
Zudem gab es auch auf erklärte Sicherheitszonen tödliche Angriffe, | |
beispielsweise auf Al-Mawasi. Im Juli bombardierte Israels Armee das Lager, | |
tötete dabei 90 Menschen und verwundete 300 weitere. Laut Israel galt der | |
Angriff Hamas-Kommandeuren. Augenzeugen berichten, dass es keine Vorwarnung | |
gab. Anfang September diesen Jahres bombardierte Israels Armee das Lager | |
erneut, dabei kamen 20 Menschen ums Leben, 60 weitere wurden verletzt. | |
## Lange Liste von Kriegsverbrechen | |
Die Liste weiterer mutmaßlicher Kriegsverbrechen ist lang: neben | |
Vertreibungen wirft HRW Israel unter anderem das Aushungern von | |
Zivilist:innen, Kollektivbestrafungen, Angriffe auf Journalist:innen, | |
Einsatz von weißem Phosphor (ein Kampfstoff, den auch Russland in der | |
Ukraine einsetzt), Sabotageakte, Angriffe auf Rettungskräfte und vieles | |
mehr. | |
HRW wirft Israels Armee vor, ethnische Säuberungen durchzuführen. Das ist | |
zwar weder eine juristische Kategorie, noch wird es im Völkerrecht | |
definiert. Der Begriff fand aber in den finalen UN-Bericht zum Bürgerkrieg | |
im ehemaligen Jugoslawien Eingang. Demnach handelt es sich um „ethnische | |
Säuberungen“, wenn eine ethnische oder religiöse Gruppe eine andere auf | |
Dauer durch Gewalt vertreibt. HRW hält es für wahrscheinlich, dass die | |
israelische Armee sicherstellen will, dass keine Palästinenser:innen | |
mehr in ihre zerstörten und besetzten Häuser zurückkehren sollen. | |
„80 Prozent der Bevölkerung Gazas sind Flüchtlinge von 1948“, sagt Milena | |
Ansari, Mitautorin des HRW-Berichts der taz. Eigentlich hätten diese laut | |
UN aufgrund der Nakba ein Rückkehrrecht in das Land ihrer Vorfahren im | |
heutigen Israel: Ein Recht, das Israel ihnen bis heute verwehrt. Durch die | |
neuen Vertreibungen würde ein weiteres Recht auf Rückkehr hinzukommen. | |
Human Rights Watch spricht deshalb von einem „[5][doppelten | |
Rückkehrrecht]“. | |
## Verdacht auf Annexion | |
Der Bericht von HRW unterstützt den Verdacht, dass Israel durch seine | |
Kriegsführung daran arbeitet, zumindest Teile der besetzen | |
palästinensischen Gebiete oder diese insgesamt zu annektieren: nicht nur | |
Gaza, sondern auch das Westjordanland. Mitglieder von Netanjahus Kabinett | |
äußern schon seit Kriegsbeginn solche Absichten. Israels rechtsextremer | |
Finanzminister Bezalel Smotrich sagte kürzlich, der Wahlsieg Donald Trumps | |
in den USA eröffne nun die Chance, israelische Souveränität über das | |
Westjordanland zu erreichen. Er habe die zuständigen Behörden bereits | |
angewiesen, mit den Vorbereitungen zu beginnen. In Smotrichs | |
Aufgabenbereich fällt auch die Kontrolle der Siedlungsverwaltung im | |
Westjordanland. | |
Smotrich sprach sich auch dafür aus, Teile des Gazastreifens zu | |
annektieren. Die „Feinde Israels“ müssten einen Preis bezahlen – in Form | |
von Land, das ihnen dauerhaft weggenommen werde. Die israelische Armee baut | |
bereits [6][neue Straßen nach Nord-Gaza]. Angeblich, um Hilfslieferungen zu | |
ermöglichen. Aber auch, um ihre Kontrolle auszudehnen. | |
## Forderung auch an Deutschland | |
Human Rights Watch fordert die internationale Gemeinschaft auf, Israels | |
Vorgehen klar zu verurteilen. Vor allem Deutschland und die USA, die beiden | |
größten Waffenlieferanten Israels, müssten ihre [7][Lieferungen | |
einstellen]. | |
Deutschland hält offiziell weiterhin an einer Zweistaatenlösung fest. Sie | |
sei „der einzige Weg zu einem nachhaltigen Frieden im Nahen Osten“, sagte | |
das Auswärtige Amt der taz. Diese Auffassung vertrete man nicht nur | |
gegenüber Partnern in der Region, „sondern auch immer wieder in | |
einschlägigen Resolutionen der Vereinten Nationen.“ Man unterstütze zudem | |
den Aufbau von palästinensischen Institutionen, die später staatliche | |
Funktionen übernehmen sollen. Bundeskanzler Olaf Scholz hat aber erst | |
kürzlich klargestellt, man werde Israel auch weiterhin Waffen liefern. | |
Jan van Aken, Bundesvorsitzender der Linkspartei, fordert einen | |
Kurswechsel. „Die Bundesregierung muss klarstellen, dass sie eine solche | |
Annexion auf das Schärfste verurteilt und im Falle eines Falles | |
Konsequenzen daraus ziehen würde“, sagt er der taz. „Die Annexionsfantasien | |
sind Teil des ewigen Krieges. Deshalb ist ein Waffenstillstand gerade so | |
wichtig. Eine Annexion von palästinensischem Land wäre ein großer | |
Völkerrechtsbruch und eine weitere Eskalation der ultrarechten israelischen | |
Regierung.“ | |
Die klassische Zweistaatenlösung hält er für unrealistisch. Allerdings gäbe | |
es „kluge Konzepte für eine „neue Zweistaatenlösung“, die die Bedürfni… | |
und die roten Linien der Menschen in Israel und Palästina gleichermaßen | |
berücksichtige. Dafür sei viel mehr diplomatische Anstrengung der | |
Bundesregierung notwendig. | |
Bis dahin müssen die Menschen in Gaza weiterhin in Unsicherheit leben. „Ich | |
hoffe, diese Gegend bleibt sicher“, zitiert HRW Doktor Hassan, der jetzt in | |
Khan Younis lebt. „Ich weiß nicht, wo wir sonst hingehen würden.“ | |
14 Nov 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.hrw.org/news/2024/11/14/israels-crimes-against-humanity-gaza | |
[2] /Israel-gegen-UN-Palaestinenserhilfswerk/!6042743 | |
[3] https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(24)01169-3/… | |
[4] /Waffenlieferungen-an-Israel/!6042646 | |
[5] https://www.hrw.org/news/2024/01/27/gaza-two-rights-return | |
[6] /Humanitaere-Lage-im-Gazastreifen/!6045595 | |
[7] /Ruestungsexporte-nach-Israel/!6042486 | |
## AUTOREN | |
Baha Kirlidokme | |
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