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# taz.de -- Die Wahrheit: Reife Lebenserfüllung
> Endlich werden die persönlichen Verdienste gewürdigt. Mit einer von
> höherer Stelle bei einer mysteriösen Künstlerin in Auftrag gegebenen
> Porträtbüste.
In dem Maße, wie meine reife Lebenserfüllung voranschritt, wuchs die
Wahrscheinlichkeit einer offiziellen Würdigung meiner Verdienste. So
überraschte es mich wenig, als ich von der Entscheidung der zuständigen
Kommission erfuhr, zur Verklärung meines Fort- und künftigen Nachlebens
solle eine Porträtbüste von mir angefertigt werden. Die renommierte
Plastikerin Camilla von Reusach wurde mit dieser Arbeit beauftragt, und
schon eine Woche später fand ich mich zur ersten Sitzung in ihrem Atelier
ein.
„Es soll nicht einfach eine hundertprozentige Wiedergabe Ihres Gesichts
werden“, erklärte sie mir, „vielmehr soll zum Ausdruck kommen, wer und was
Sie hinter der Fassade Ihrer äußeren Erscheinung sind. Ihr Inneres, Ihr
Charakter, Ihre neuronale und seelische Architektur, jede Nuance bis hin
zum Rauschen in Ihrem linken Ohr muss aus diesem dreidimensionalen Porträt
sprechen.“
Ich nahm an, die Plastikerin werde nun Physiognomieskizzen oder
Porträtfotografien von mir anfertigen, vielleicht sogar gleich mit
Celeritmasse modellieren. Auch einen Abguss nach dem Leben, einen
sogenannten Paraffinabklatsch, hätte ich erwartet, wurde jedoch darüber
belehrt, dass das technische Verfahren zur Herstellung von Porträtbüsten
ein völlig anderes sei.
Frau von Reusach führte mich zu ihrem Arbeitsplatz. Einem sehr alten
Kabinett entnahm sie dort einen Apparat, aus dem lange Wollfäden oder etwas
Ähnliches heraushingen, und stellte ihn auf den großen Ateliertisch. Sie
schien verärgert.
„Ich brauche ein Gerät, aus dem keine langen Fäden heraushängen!“,
schimpfte sie. „So kann ich nicht arbeiten. Jetzt kann ich wieder tagelang
erfolglos mit dem sogenannten Kundenservice des Geräteherstellers
telefonieren, und alles wird immer schlimmer. Wenn das mein Leben sein
soll, dann will ich es nicht!“
Von mir nahm sie keine Notiz mehr, sondern begann ein Ferngespräch, in
dessen Verlauf sie immer unkontrollierter in den Hörer schrie. Damit endete
meine erste Porträtsitzung bei Camilla von Reusach. Ich schlich leise
hinaus und fuhr heim.
Ein paar Tage später erhielt ich einen Brief von der städtischen Stelle,
die für die Würdigung meiner Verdienste zuständig war. Es handelte sich um
ein vorgefertigtes Standardschreiben, worin stand, meine Porträtbüste sei
erfolgreich fertiggestellt worden. Man wünschte mir viel Freude daran. Nach
einem weiteren Tag entdeckte ich im Kulturteil der Lokalzeitung die kurze
Nachricht, die bedeutende Plastikerin Camilla von Reusach sei plötzlich und
unerwartet verstorben.
Ich lebe inzwischen irgendwo bei einer rätselhaften alten Frau in deren
nahezu baufälligem Haus. Die – in manchen Vollmondnächten wieder ganz junge
– Frau bezahlt mich dafür, dass ich tagsüber die das verwilderte Grundstück
heimsuchenden dämonischen Idiotenvögel bekämpfe, deren monotones Gejaul
nachweislich bei Menschen Demenz erzeugt.
28 Nov 2024
## AUTOREN
Eugen Egner
## TAGS
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