# taz.de -- Die Wahrheit: Personen hinter Glasscheiben | |
> Was wollen die Leute, die einen nach der Veranstaltung bis ins Hotel | |
> verfolgen? Eine Antwort könnte sie schockieren. | |
Obwohl ich erst am Anfang meiner neuen Forschung stand, beschloss ich, | |
öffentliche Vorträge zu halten. Die Gefahr, meine wissenschaftliche | |
Reputation zu untergraben, ignorierte ich. Das nicht sehr zahlreiche | |
Publikum begegnete mir und meinen Ausführungen im Allgemeinen | |
freundlich-kühl bis reserviert. Offenen Widerspruch, Spott oder gar | |
Feindseligkeit erlebte ich selten. | |
Häufiger musste ich die bedrückende Anwesenheit psychisch auffälliger | |
Personen feststellen. Sie waren die einzigen, die sich nicht auf höfliches | |
Schweigen, nichtssagende Formulierungen oder verlegenes Ausweichen auf | |
andere Themen beschränkten. Erfreulicher konnten ihre Reaktionen deshalb | |
allerdings kaum genannt werden. Meist handelte es sich um schlecht oder gar | |
nicht bemäntelte Versuche von Eiferern, Aufmerksamkeit für ihre abstrusen | |
Ideen zu finden. Manchmal ging es um absonderliche Erfindungen, | |
„Heilslehren“ oder Ideologien, auch wurden mir Patente und angebliche | |
Wundermittel zum Kauf angeboten. | |
Nach einem der letzten dieser Vorträge kehrte ich am späten Abend müde ins | |
Hotel zurück. Ich wollte mir an der Rezeption meinen Zimmerschlüssel geben | |
lassen, musste aber warten, weil die Empfangsdame soeben mit einem | |
anscheinend schwierigen Gast telefonierte und dabei eifrig Notizen machte. | |
Um nicht nutzlos dabeizustehen und mitanzuhören, was mich nichts anging, | |
betrachtete ich die an den Wänden der Halle hängenden alten Gemälde. Dabei | |
nahm ich mit einem beiläufigen Seitenblick wahr, dass draußen vor der | |
gläsernen Eingangstür Menschen standen, die hereinschauten. Sehr überrascht | |
erkannte ich in ihnen die Organisatoren meines Vortrags. Es war keine | |
Viertelstunde vergangen, seit ich ihre Einladung zu einem gemeinsamen | |
Nachtmahl dankend abgelehnt und mich von ihnen verabschiedet hatte, weil | |
ich dringend Schlaf benötigte. | |
## Unseriös | |
Waren sie wider Erwarten so unseriös, dass sie mich doch noch überreden | |
wollten? Dazu passte aber ihr Verhalten nicht. Sie blieben wie begossen vor | |
der Tür stehen und schauten mit traurigen Gesichtern zu mir herein. Weil | |
ich nicht unhöflich erscheinen wollte, nickte ich ihnen freundlich zu, | |
obwohl ich mich über sie ärgerte. Am liebsten hätte ich mein Zimmer | |
aufgesucht, aber die Empfangsdame telefonierte noch immer. | |
Einer der draußen Stehenden tippte mit einer Zeigefingerspitze zaghaft an | |
die Glasscheibe, dann gingen sie alle langsam fort. Bei ihrem Rückzug | |
machten sie einen dermaßen enttäuschten und niedergeschlagenen Eindruck, | |
dass ich mich schuldig fühlte. Vielleicht tat ich ihnen ja Unrecht und sie | |
hatten eine wichtige, wenn auch schlechte Nachricht für mich? | |
Beunruhigt lief ich hinaus, um zu erfahren, was sie gewollt hatten. Auf der | |
Straße war jedoch niemand zu sehen. Der niedrige Himmel, der aussah wie | |
kopfüber hängende Gleisbetten und Schienenstränge, drückte von oben. Ich | |
kehrte ins Hotel zurück. | |
4 Apr 2024 | |
## AUTOREN | |
Eugen Egner | |
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