# taz.de -- Die Wahrheit: Die neue Wohnung | |
> Plötzlich zu Hause abgeführt und in ein ganz anderes geheimnisvolles | |
> Domizil geleitet zu werden, kann enorme Beklemmungen auslösen. | |
Kaum war ich mit dem Frühstück fertig, kam eine ältere, finster wirkende | |
Frau zu meinem Tisch und begann, das Geschirr abzuräumen. Ich hatte sie nie | |
zuvor gesehen, weshalb es mich überraschte, dass sie plötzlich in | |
unfreundlichem Ton zu mir sagte: „Gleich werde ich Sie zu Ihrer neuen | |
Wohnung fahren.“ | |
Trotzdem um Höflichkeit bemüht, äußerte ich, es müsse hier wohl eine | |
Verwechslung vorliegen. Darauf reagierte die Frau schroff: „Haben Sie | |
vergessen, dass ich Sie gestern Abend hergebracht habe? Von mir haben Sie | |
doch den Rat bekommen, sich hier einzuschreiben.“ | |
Meinen Widerspruch ignorierend, brachte sie das Geschirr fort. Während ich | |
mich noch über ihre Behauptungen wunderte, kehrte sie, jetzt im Mantel, | |
zurück und sprach: „Nehmen Sie Ihre Sachen und kommen Sie mit!“ | |
Aus reiner Neugier folgte ich ihr mit meinem Gepäck, so schnell ich konnte. | |
Auf dem Flur schlossen sich uns der Vorsteher und eine Sachbearbeiterin der | |
Wohnungsvermittlungsstelle an. Alle vier verließen wir eilig das Haus. | |
Draußen stand ein Kraftwagen bereit. Zuerst stiegen die Sachbearbeiterin | |
und der Vorsteher ein, um auf der Rückbank Platz zu nehmen. Die mir | |
unbekannte finstere Frau setzte sich, wie angekündigt, ans Steuer, und ich | |
mich auf den Beifahrersitz. | |
Der Wagen fuhr los. Niemand sprach ein Wort. Nach ein paar Minuten hielten | |
wir vor einem dreistöckigen Kaufhaus, einem für den Ort außergewöhnlich | |
hohen Gebäude. Über dem Portal bildeten große Leuchtbuchstaben den Namen | |
„Gleisen“. Zahlreiche Menschen gingen ein und aus. Ich konnte mir nicht | |
erklären, weshalb wir die Fahrt gerade an dieser Stelle unterbrachen. Da | |
stiegen die beiden hinten Sitzenden wortlos aus und strebten auf den | |
Kaufhauseingang zu. Die am Steuer verweilende Fahrerin forderte mich | |
ungeduldig auf: „Schnell! Folgen Sie den beiden!“ – „Warum?“ – „B… | |
sich!“ | |
Inzwischen waren der Vorsteher und die Sachbearbeiterin durch die große, | |
aus Metall und Glas gefertigte Eingangstür verschwunden. Nun noch | |
neugieriger, eilte ich ihnen mit meiner Reisetasche nach. Als ich die | |
untere Verkaufsebene betrat, hatten sie schon die Rolltreppe zur ersten | |
Etage erreicht und wurden aufwärts befördert. Anscheinend verließen sie | |
sich darauf, dass ich ihnen folgte, denn sie wandten sich nicht einmal nach | |
mir um. | |
Auf der Rolltreppe angekommen, fragte ich den Vorsteher: „Müssen wir hier | |
noch etwas kaufen, bevor wir zu meiner neuen Wohnung fahren?“ – „Wie kann | |
man nur so dumm fragen!“ schimpfte er. „Hier ist Ihre Wohnung!“ – „Hi… | |
Soll ich etwa in diesem Kaufhaus wohnen?“ – „Ja, selbstverständlich. Son… | |
wären wir wohl kaum hier.“ | |
Ich entgegnete: „Es hätte ja sein können, dass Sie sich schnell noch eine | |
Hose kaufen wollten, bevor wir zu meiner neuen Wohnung fahren.“ | |
„Es gibt keine Hosen mehr“, beschied mich der Vorsteher mürrisch. Damit war | |
das Thema endgültig erledigt. | |
20 Feb 2024 | |
## AUTOREN | |
Eugen Egner | |
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