# taz.de -- Die Wahrheit: Verhör durch den verlängerten Arm | |
> In einem abgelegenen Haus wird ein Mann festgehalten und mit „Beweisen“ | |
> konfrontiert, die eine „Naturstelle“ gegen ihn zusammengetragen hat. | |
Beim optischen Durchdringen der unvertrauten Landschaft entdeckte ich in | |
etwa fünfzig Metern Distanz ein kleines Haus. Daneben saßen zwei ältere | |
Männer auf dem Erdboden. | |
„Wir warten auf Hornscheit“, sagte einer von ihnen. Auf meine Frage, wer | |
das sei, antwortete der andere: „Der verlängerte Arm der Naturstelle. Er | |
wird gleich herauskommen und tanzen.“ | |
Beide verlangten, ich solle mich ebenfalls auf den Boden setzen. | |
Widerstrebend tat ich es. Ein großer, dünner alter Mann – offenbar der | |
genannte Hornscheit – kam aus dem Haus. Seine Kleidung absonderlich zu | |
nennen, wäre stark untertrieben gewesen. Eigentlich war es keine Kleidung | |
im engeren Sinne, denn der Leib dieses Menschen war bloß mit vielen kleinen | |
Fellstücken bedeckt, die wie platte tote Ratten aussahen und an Schnüren | |
hingen. Die Schnüre waren an mehreren Körperstellen befestigt, am Hals, den | |
Oberarmen und -schenkeln sowie an einem ledernen Hosengürtel. | |
Näher kommend, machte Hornscheit ungelenke Sprünge und Verrenkungen. Er | |
hielt mir die Spitze eines Stocks, an der etwas ekelhaft Aussehendes | |
steckte, vors Gesicht und befahl den Männern, mich ins Haus zu bringen. In | |
dem kleinen Haus begab sich „der verlängerte Arm der Naturstelle“ sofort in | |
eins der Zimmer. Seine beiden Helfer brachten mich in ein anderes und | |
verschwanden. | |
Es dauerte nicht lange, bis Hornscheit zu mir kam. Er hatte sein | |
lächerliches Kostüm gegen gewöhnliche Kleidung getauscht: weißes Hemd, | |
dunkle Hose und Schuhe. Auch trug er jetzt eine Brille. Als ein alter Mann | |
mit Halbglatze und grämlich verzogenem Mund blickte er mich feindselig an. | |
„Ich werde Ihnen alles nachweisen“, knurrte er, „jedes einzelne Wort, das | |
Sie geschrieben haben. Die ganze Schweinerei.“ Er rief seine Handlanger und | |
befahl ihnen, „die Beweise“ zu holen. Wortlos gehorchend, liefen sie wieder | |
davon. „Gleich kommt alles heraus“, kündigte Hornscheit an, „machen Sie | |
sich auf die endgültige Abrechnung gefasst!“ | |
Erstaunlich schnell kehrten die Gehilfen zurück. Jeder von ihnen trug ein | |
trommelförmiges, mülltonnengroßes Objekt, bestehend aus Holzlatten, | |
Drähten, Schnüren und Zeitungsblättern, die auf eine nur im Traum mögliche | |
Weise integriert waren. Es schien sich um so etwas wie Apparate zu handeln. | |
Offenbar mussten sie durch das Drehen von Kurbeln in Rotation versetzt | |
werden, doch alle Versuche, sie zum Funktionieren zu bringen, misslangen. | |
Hornscheit fluchte. Schließlich ließ er die unnützen Gebilde wieder | |
fortschaffen. Er drohte mir: „Ich besitze den elektronischen Abdruck | |
einiger Ihrer Träume. Damit kann ich ebenso gut alles beweisen.“ Doch | |
diesen Beweis blieb er schuldig. Stattdessen faselte er unzusammenhängendes | |
Zeug, bezichtigte mich auch, ein „untergetauchter Arzt“ zu sein. Sein | |
wildes Fantasieren wurde immer wirrer, bis seine Sprache kollabierte. Dann | |
wurde er – von innen her – vor meinen Augen ausgewechselt. | |
10 Oct 2023 | |
## AUTOREN | |
Eugen Egner | |
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