| # taz.de -- Buch zu Jugendsozialarbeit: Und sein Ego bleibt im Auto | |
| > Burak Caniperk ist Sozialarbeiter in Schöneberg. Darüber und über seine | |
| > Haltung gegenüber jungen Menschen hat er das Buch „Auf Augenhöhe“ | |
| > geschrieben. | |
| Bild: Burak Caniperk las im „Heimathafen Neukölln“ aus dem Buch, das er mi… | |
| Berlin taz | Jung sein ist verdammt schwierig. Und für einige junge | |
| Menschen in Berlin ist es richtig hart. Davon berichtet Burak Caniperk, der | |
| „Sozialarbeiter aus Leidenschaft“. Bisher tut er das auf seinen Accounts | |
| bei Instagram und Tiktok. Dort hat er rund 63.000 beziehungsweise 10.000 | |
| Follower, denen er Einblick in seinen Alltag als Streetworker [1][im | |
| Schöneberger Steinmetz-Kiez] gibt. Nun erzählt er seine Geschichte und die | |
| Geschichten von Jugendlichen, denen er bei seiner Arbeit begegnet, auch in | |
| einem Buch. „Auf Augenhöhe“ heißt es, geschrieben hat er es gemeinsam mit | |
| seiner Co-Autorin Alke Wierth, die wie er selbst auch bei dem | |
| Jugendhilfeträger [2][Outreach] arbeitet. Erschienen ist es Mitte Oktober | |
| im [3][Kösel-Verlag]. Um seine Klienten zu schützen, wurden die Geschichten | |
| anonymisiert. | |
| Die Probleme der Jugendlichen, auf die er trifft, kennt er aus eigener | |
| Erfahrung, sagt der 1993 geborene Caniperk. Denn auch er selbst habe eine | |
| „undankbare Schullaufbahn“ hinter sich, habe sich aus schwierigen | |
| Verhältnissen herausgearbeitet. „Wir waren auf uns allein gestellt“, sagt | |
| er über diese Zeit, als er sein Buch am vergangenen Mittwoch mit einer | |
| Lesung und Diskussion im Heimathafen Neukölln erstmals öffentlich | |
| vorstellt. Seine Eltern hätten sehr viel und hart gearbeitet, die Mutter | |
| als Schneiderin, der Vater als Taxifahrer. Sie hatten daher wenig Zeit. Und | |
| er sagt: Auf dem Weg zum Erwachsenwerden, da lauern viele Einbahnstraßen. | |
| „Da kann man durchaus auch mal verzweifeln.“ | |
| Gerade für junge Menschen, die eigentlich dabei sind, ihren Platz in der | |
| Gesellschaft zu suchen und herauszufinden, wer sie sind und wie sie sein | |
| möchten, können sich mehrere einzelne Probleme zu riesigen Hürden | |
| auftürmen. Benachteiligt sind Jugendliche nicht nur, wenn in den Familien | |
| wenig Geld da ist, das legt Caniperk im Gespräch mit der Moderatorin und | |
| Journalistin Ebru Taşdemir dar. Gefährdet seien nicht nur Jugendliche aus | |
| sogenannten prekären Verhältnissen oder aus armen Stadtteilen. Dazu gehöre | |
| auch, dass Eltern Schwierigkeiten in Schulfächern nicht mal eben mit | |
| Hausaufgabenhilfe ausgleichen könnten. Oder das Gefühl, nicht | |
| dazuzugehören, etwa als Kind von türkischen Einwanderern. Oder ein | |
| Stiefvater, der einen ablehnt und so vielleicht vermittelt, dass die | |
| Probleme an einem selbst liegen könnten, dass man selbst irgendwie falsch | |
| ist. | |
| Deshalb ist es gerade für Jugendliche so wichtig, Verbündete zu haben: | |
| „Jemanden, der oder die zeigt, dass es nicht so sein muss“, sagt er. Für | |
| Burak Caniperk selbst war das ein Lehrer – Herr Reibold. Den habe er eines | |
| Tages angesprochen. „Kann ich mal mit Ihnen reden, ich habe ein Problem“, | |
| habe er gesagt. Der Lehrer habe sich das dann angehört und habe ihm gesagt: | |
| „Komm morgen wieder. Ich weiß Bescheid.“ Dass dieser Lehrer ansprechbar war | |
| und bereit, ihn zu unterstützen, das war es dann letztlich, was ihm den Weg | |
| zu einem Abschluss geebnet habe. „Jeder braucht einen Herrn Reibold – oder | |
| eine Frau Reibold“, sagt Caniperk. Seinen Herrn Reibold hatte er allerdings | |
| erst in der Oberstufe getroffen. | |
| ## Er bietet sich Jugendlichen als Verbündeter an | |
| Das ist ein wesentlicher Grund für seine Motivation und Leidenschaft in | |
| seinem Job. Denn: Heute ist er selbst es, der sich den Jugendlichen als so | |
| ein Verbündeter anbietet. Und dazu gehöre es teilweise auch, „den Kids zu | |
| sagen, was sie für ein Leben leben“, sagt er. Er sei oft erstaunt, mit | |
| welchen schlimmen Zuständen die Jugendlichen sich irgendwie arrangiert | |
| hätten, wenn er sie treffe. Dann gehe es auch darum, ihnen zu vermitteln, | |
| dass es nicht normal sei, dass sie wohnungslos geworden sind und sich | |
| tagtäglich über Pfandsammeln das Geld für eine Aufbackpizza zusammenkratzen | |
| müssten. Dass sie – was immer auch dazu geführt habe – etwas Besseres | |
| verdient hätten. | |
| Als Streetworker und Jugendsozialarbeiter gehe es darum, das Vertrauen der | |
| Jugendlichen zu gewinnen. Wobei diese oft gerade gegenüber Erwachsenen eher | |
| misstrauisch seien. Wenn der Kontakt da sei, dann sage er den Jugendlichen: | |
| „Ich bin der beste Sozialarbeiter, den du kriegen kannst“, erzählt | |
| Caniperk. Allerdings unter einer Voraussetzung: „Wenn du dich dafür | |
| entscheidest, dran zu bleiben.“ Denn ob sie überhaupt Hilfe annehmen, dazu | |
| müssten sich die Jugendlichen eben selbst entschließen. Und dann könne es | |
| durchaus sein, dass sich Sozialarbeiter und Jugendlicher auch mal „ganz | |
| schön auf die Nerven“ gingen. Und: Nicht jeder nehme Hilfe an – das gelte | |
| es dann auszuhalten. | |
| Wie es wäre, wenn er einen Jugendlichen unterstützen solle, den er | |
| eigentlich nicht mag, will ein Zuhörer wissen. Caniperk muss kurz | |
| nachdenken. „Ich bin verdammt geduldig“, sagt er. „Und ich lasse mein Ego | |
| im Auto.“ Es käme vor, dass er sich sage: „Das hat er nicht so gesagt.“ | |
| Oder: „Das hat er so gesagt, aber nicht so gemeint.“ Und wenn es wirklich | |
| mal nicht klappe, dann könnte ein Kollege übernehmen. | |
| Das Buch ist in einer sehr klaren Sprache geschrieben mit kurzen Sätzen und | |
| in einem Tonfall, der nah an der Art und Weise ist, wie Caniperk selbst | |
| spricht. Nur dass da noch der hessische Akzent dazukommt, aufgewachsen ist | |
| Caniperk in Hanau. Die Kapitel sind kurz. Zwischen den (verfremdeten und | |
| anonymisierten) Erfahrungen mit konkreten Jugendlichen stehen Kapitel, in | |
| denen Caniperk erklärt, was ein Sozialarbeiter überhaupt macht. Oder in | |
| denen er berichtet, wie sein Alltag als Streetworker aussieht. | |
| ## Jugendliche würden Anerkennung wollen | |
| Und er erklärt, was überhaupt die Grundlage von sozialer Arbeit für Kinder | |
| und Jugendliche ist – dass das nämlich keine freiwillige Nettigkeit der | |
| Bezirke ist, sondern eine staatlich garantierte Leistung. Sein Buch mache | |
| daher auch diese „oft unsichtbare Arbeit sichtbarer“, sagt die Moderatorin | |
| Ebru Taşdemir. | |
| Es sei nicht sein Job, Jugendlichen zu erklären, wie sie zu leben haben, | |
| liest Caniperk aus einem Kapitel vor. Stattdessen wolle er ihnen | |
| vermitteln: „Wenn du Anerkennung bekommen möchtest für das, was du bist, | |
| was du willst, dann kannst du das auf diese Weise vielleicht eher schaffen, | |
| als mit dem Kopf durch die Wand zu gehen oder durch totalen Rückzug.“ Denn | |
| letztlich wünschten sich die Jugendlichen, gesehen zu werden. Sie wollten | |
| Anerkennung und wertgeschätzt werden für das, was sie seien, genauso wie | |
| Erwachsene. | |
| Doch gleichzeitig gebe es wenige Plätze für Jugendliche. Und selbst wenn es | |
| sie in Form von Jugendclubs oder Treffpunkten gibt, sind sie oft von | |
| Kürzungen betroffen oder von Schließungen bedroht. Oft gebe es zudem | |
| Beschwerden aus dem Umfeld: Die Jugendlichen hörten viel, dass sie „zu | |
| laut“ seien oder eben „störten“. Da sei viel Ablehnung und Unverständni… | |
| berichtet Caniperk. „Im Sommer hatten wir mit Jugendlichen draußen gekocht | |
| und wollten dann Passant*innen einladen, mit uns zusammen zu essen“, | |
| erzählt er. Teils hätten diese aber mit Angst und Drohungen reagiert, wenn | |
| einer der Jugendlichen mit einem Teller voll Essen auf sie zugegangen sei. | |
| Caniperk macht deutlich, dass er das als symptomatisch für den Umgang mit | |
| Jugendlichen in der Gesellschaft generell sieht. | |
| Gerade als migrantisch wahrgenommene junge Männer stünden schnell im Fokus, | |
| wenn es um Probleme ginge – und weniger, was ihre Fähigkeiten und Wünsche | |
| betreffe. „Als Sozialarbeiter können wir ihnen zeigen, wie sie teilhaben | |
| können“, sagt er. Doch das sei nur die eine Seite. Denn es gebe in Berlin | |
| wenige Plätze für Jugendliche und wenige Spielräume oder Orte, die sie | |
| selbst gestalten könnten. | |
| ## Hauseigentümer seien im Vorteil | |
| „Jugendliche kriegen nicht mal eben so Vertreter*innen vom Bezirk, von | |
| der Stadt und von Wohnungsbaugesellschaften an einen Tisch, um dann | |
| Beschlüsse zu fassen und auf den Weg zu bringen“, sagt er. | |
| Hauseigentümer*innen dagegen schon. Es habe ihn immer wieder | |
| erstaunt, mit welcher Schnelligkeit und welcher Aggressivität Erwachsene | |
| agierten, um Jugendliche von bestimmten Orten „wegzubekommen“, sagt | |
| Caniperk, selbst beim Sprechen darüber im Nachhinein wirkt er noch immer | |
| etwas perplex. | |
| Ein wichtiger Punkt in seinem Buch – und in seiner Arbeit – ist auch die | |
| Haltung gegenüber den Jugendlichen. Es gehe darum, herauszufinden „was | |
| steckt in ihnen, wofür interessieren sie sich.“ Und dann Wege zu finden, | |
| wie sie ihre Wünsche umsetzen und ihre Potenziale entfalten könnten. | |
| Mit dieser Haltung setzt sich Caniperk nicht nur für die einzelnen | |
| Jugendlichen ein, die sich in Schieflagen wiederfinden, sondern er pocht | |
| stark darauf, dass die Gesellschaft ihr Verhältnis zu Jugendlichen | |
| überdenken, sie mehr wahrnehmen und stärker ernst nehmen sollte. Der | |
| Untertitel seines Buchs lautet daher auch: „Wie wir unsere Jugendlichen | |
| nicht verlieren.“ Und mit diesem „wir“, da sollten sich durchaus alle | |
| mitgemeint fühlen, sagt Caniperk. „Ich habe nicht geschrieben, wie ich | |
| meine Jugendlichen nicht verliere“, betont er. | |
| Was er denn denke, was es brauche, um die Situation von Jugendlichen zu | |
| verbessern, fragt eine Frau aus dem Publikum. Von der Politik würde er sich | |
| mehr Achtsamkeit wünschen, und dass sie Jugendarbeit nachhaltiger | |
| organisieren würden. „Und mehr Geld“, das würde immer helfen. Doch das sei | |
| nicht das Einzige, sagt er. „Wir sollten gemeinsam unser Bewusstsein | |
| schärfen und bei den Kids, die wir beobachten, fragen: Was passiert da?“, | |
| sagt Caniperk. „Bevor ich die Jugendlichen treffe, gab es schon | |
| Lehrer*innen, Bäcker*innen, Nachbar*innen“, sagt er. | |
| ## Zuviele „Weggucker“ | |
| Je früher von denen mal jemand nachgefragt hätte, desto einfacher wäre | |
| Unterstützung gewesen. „Da ist schon vorher einiges schiefgegangen. Man | |
| könnte sagen: Viele Weggucker haben dazu geführt, dass die Schwierigkeiten | |
| groß geworden sind – so groß, dass wir als Sozialarbeiter tätig werden“, | |
| sagt er. Und fordert: „Gerade wenn man es selbst geschafft hat, dann könnte | |
| man etwas zurückgeben.“ Wenn jede und jeder ein bisschen Verantwortung | |
| übernehmen würde – das wäre ein guter Anfang. | |
| 3 Nov 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://steinmetz-kiez.org/ | |
| [2] https://outreach.berlin/ | |
| [3] https://www.penguin.de/buecher/burak-caniperk-auf-augenhoehe/paperback/9783… | |
| ## AUTOREN | |
| Uta Schleiermacher | |
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