# taz.de -- Peter Pan im Deutschen Theater Berlin: Zwei ist der Anfang vom Ende | |
> Der Traum von ewiger Jugend wird in „Wasteland: Peter Pan“ zum Albtraum. | |
> Die Kollektiv-Inszenierung gleicht einer unfertigen Baustelle mit viel | |
> Potenzial. | |
Bild: Im Badezimmer werden bald die Regeln der Macht zwischen Mutter und Kind g… | |
Wer ist dieser Peter Pan? Die Frau, die aufgeregt von ihm erzählt, hat ihn | |
in den Köpfen der Kinder entdeckt. Aber Pan, wer ist das, warum denken alle | |
an ihn, sie ist beunruhigt. Ihr Mann hingegen, an der Rechenmaschine, hat | |
andere Sorgen und rechnet und rechnet. „Wir werden uns die Kinder nicht | |
mehr leisten können“, murmelt er, und überlegt, wo man sparen kann. | |
Vielleicht beim Hundefutter? | |
Ihre Welt ist klein. Sie und er stecken dabei in einem Käfig auf der Bühne | |
des Deutschen Theaters in Berlin. Der Theaterabend heißt „Wasteland: Peter | |
Pan“. Ist das schon ein Stück, diese Montage aus Texten von T. S. Eliots | |
Gedicht „Das öde Land“, von Motiven aus J. M. Barries „Peter Pan“ und … | |
Text von Patty Kim Hamilton? Oder sieht man hier viel mehr den Künstlern | |
bei der Suche zu? „Eine kollektive Arbeit des Ensembles unter | |
künstlerischer Leitung von Alexander Eisenach und Jan Jordan“, so benennt | |
der Programmzettel die Produktion. Eine vorgesehene Regisseurin stieg aus | |
„persönlichen Gründen“ in den letzten Probenwochen aus. Der Text von Patty | |
Kim Hamilton, der zunächst als ihre Fassung von „Peter Pan“ angekündigt | |
war, ist nun nur ein Fragment in einer Szene. Die anderen aber, | |
Schauspieler:innen, Musiker:innen, Dramaturgie und Bühnenbild haben sich | |
tapfer weiter durch die Stoffe gewühlt, Szenen und Bilder gefunden, | |
märchenhaft, traumhaft, albtraumhaft. | |
Eng, wie zwischen die Seiten eines Buches gequetscht, sind die einzelnen | |
Kammern, die auf der Drehbühne von Kathrin Frosch an uns vorüberziehen. | |
Durch schmale Schlitze steigen die Figuren vom einen ins nächste Bild, | |
wechseln die Realitäten. In einem Badezimmer wird Mutter-Kind gespielt und | |
die Mutter ist streng und diktatorisch, sonst wäre sie keine. In einer | |
Kammer sitzen Rahel Hutter und Niklas Kraft an Klavieren und untermalen die | |
Szenen melancholisch. Eine Fee taucht auf, zwischen engen Wänden, und | |
erzählt von einem Date, einem sexuellen Akt, von dem sie, die Frau in der | |
Szene, nur hofft, dass er schnell vorübergeht. Die Fee lässt sich | |
irgendwann als Tinkerbell identifizieren, Begleiterin Peter Pans. Ihre | |
Erzählung aber stammt aus den tief pessimistischen Zeilen von Eliots | |
Gedicht. | |
## Die existentielle Verunsicherung nach dem Ersten Weltkrieg | |
Die Musik, das Drehen der Bühne, das Umherwandern der Figuren erzeugen | |
einen Sog, der teils darüber hinweghilft, dass man oft nicht zuordnen kann, | |
ob man gerade mit Peter Pan oder T. S. Eliot unterwegs ist. Bei T. S. Eliot | |
sind die Landschaften vertrocknet, die Hoffnung auf einen Neuanfang im | |
Frühling ist von Angst überdeckt, der nächste Schrecken scheint schon zu | |
lauern. Das Gedicht atmet die [1][existenzielle Verunsicherung der Zeit | |
nach dem Ersten Weltkrieg]. Eine Angst vor den Kräften der Zerstörung, die | |
vom Menschen entfacht worden sind. | |
Darin liegt tatsächlich eine Verbindung zu J. M. Barries „Peter Pan“. Denn | |
in dieser Geschichte geht es nicht nur um die Verweigerung des | |
Erwachsenwerdens, die Verweigerung der Anpassung an die Norm, sondern auch | |
um das Vergessen. Neverland, wohin Peter Pan die Kinder entführt, die nicht | |
erwachsen werden wollen, ist ein Land ohne Vergangenheit. Ein Land der | |
ewigen Gegenwart. Doch der Spaß, den Peter Pan seinen Getreuen jeden Tag | |
verspricht, wird auf Dauer zum qualvollen Stillstand. | |
Kindheit ist kein Spaß in dieser Inszenierung. „Zwei ist der Anfang vom | |
Ende“, dieser merkwürdige Satz, den die zweijährige Wendy schon bei „Peter | |
Pan“ denkt, taucht hier gleich zu Anfang auf, verbunden mit der Reflexion, | |
„wir müssen alle sterben“. Zukunftsangst, ist es nicht das, was Peter Pan | |
schon immer im Nacken sitzt, fragt diese Inszenierung. Der Versuch | |
jedenfalls, im Neverland dem Rad der Geschichte zu entkommen, wird diesmal | |
nicht gelingen. | |
Peter Pan selbst, hier im roten Anzug, ist eine unglückliche Figur. Seine | |
Haut schält sich von seinem Gesicht, ein in Fetzen gegangener Mythos. | |
Niemand will mehr mit ihm fliegen, seine Macht schrumpft. Das bürgerliche | |
Leben und die Endlichkeit, die seine Getreuen einst mit der Entscheidung | |
für ihn ausgeschlagen haben, ruft sie nun doch. Er wird einsam. | |
## Eine Fantasie, von der Erwachsene glauben, sie sei kindlich | |
Die Kostüme der Figuren überzeichnen das, [2][was als kindliche Fantasie | |
gilt] – und vielleicht auch nur ein Konstrukt von dem ist, wie Erwachsene | |
glauben, dass Kinder wären. Vielleicht sind sie, die jeden Tag | |
funktionieren sollen, ja die, die sich nach Infantilität und vermeintlicher | |
Unschuld sehnen. Diese Künstlichkeit schillert in den Figuren – mal | |
verführerisch, aber auch beängstigend. Der visuelle Touch der Produktion | |
erzählt gelungen von der Verwandlung eines Traums, der mit Wünschen begann, | |
in einen Alptraum. | |
Doch vieles bleibt auch rätselhaft. Man bräuchte mehr Raum und | |
Konzentration, um sich in die Passagen aus T. S. Eliots Gedicht einzuhören, | |
das als ein Meilenstein auf dem Weg [3][in eine Moderne gilt, die ihre | |
Sinnstiftung verloren hatte.] So bleibt vieles ein Splitter, hingeworfen | |
und man wüsste gerne mehr, warum. | |
27 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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