| # taz.de -- Regisseur über Überlegenheitsnarrative: „Wir lernen, auf vermei… | |
| > „Mia san Mia“ heißt ein Stück des Regisseurs Marco Layera an den Münc… | |
| > Kammerspielen. Ein Gespräch über Parallelen zwischen Deutschland und | |
| > Chile. | |
| Bild: Kartoffelzombies in Lederhosen: Im Ausland stehen Bayernklischees für di… | |
| taz: Ein deutsches Sprichwort sagt: „Die dümmsten Bauern haben die größten | |
| Kartoffeln.“ Daran musste ich denken, als die Figuren in „Mia san Mia“ mit | |
| kartoffelförmigen „Steinen“ auf die Bühne kamen. | |
| Marco Layera: Wir haben für diese Arbeit vieles erkundet, die Kultur der | |
| Arbeit, der Familie – und auch das ländliche Leben. Dass die „Steine“ | |
| Kartoffelform haben, ist kein Zufall. Man kann diese Verbindung herstellen, | |
| ohne dass es ein eindeutiges Bild sein soll. | |
| taz: Damit haben diese Figuren aber auch gleich einen Stempel. Und sie sind | |
| durch andere äußere Attribute als Bayern-Zombies gekennzeichnet. Das haben | |
| einige Zuschauende als Bashing aufgefasst. Worum ging es Ihnen? | |
| Layera: Es geht in dieser Arbeit um das Konzept der Identität, und das | |
| beinhaltet nicht nur, wie ich mich selbst beschreibe, sondern auch, wie ich | |
| von anderen gesehen werde. Wir haben uns die Frage gestellt, wie sieht man | |
| die Bayern und die Deutschen von außen? | |
| taz: Die Bayern oder die Deutschen? | |
| Layera: Für den Außenblick basiert das „typisch Deutsche“ auf der | |
| bayerischen Kultur. So wird Deutschland im Ausland wahrgenommen. In Chile | |
| kommt noch die Erfahrung mit der wegen ihrer Grausamkeit sehr bekannt | |
| gewordenen deutschen Sekte Colonia Dignidad dazu, die heute Villa Bavaria | |
| heißt. Und es gibt die Stereotype, die Deutschen seien kalt, zeigten keine | |
| Zuneigung, agierten effizient und immer rational. | |
| taz: Dann aber kommen ausländische Berichterstattende zur Fußball-EM und | |
| wundern sich über die ineffiziente [1][Deutsche Bahn]. Einige dieser | |
| Vorurteile gibt es auch innerdeutsch. | |
| Layera: 2019, als ich zum ersten Mal nach München gekommen bin, haben mich | |
| Berliner Kollegen gewarnt: München sei die konservativste Stadt | |
| Deutschlands und voller Faschisten. Ich bin mit einer gewissen Angst | |
| hierhergekommen: Welchen Monstern werde ich wohl begegnen? Als ich dann in | |
| die Münchner U-Bahn gestiegen bin, habe ich eine sehr diverse Stadt | |
| gesehen. Aber Vielfalt nutzt wenig, wenn die Gruppen sich nicht | |
| durchmischen, sondern die einen nur die Dienstleistungen für die anderen | |
| verrichten. | |
| taz: Auch wenn das in einer Stadt mit so vielen großen internationalen | |
| Arbeitgebern eher weniger ausgeprägt ist als anderswo in Deutschland. Sie | |
| haben vorab gesagt, das Motto „Mia san Mia“ sei Ihnen vertraut. Inwiefern? | |
| Layera: Dieses Identitäts- und kriegerische Überlegenheitsnarrativ | |
| existiert in [2][Chile] genauso. Uns hat man gesagt, wir wären „die Jaguare | |
| Lateinamerikas“, arbeitsam, bescheiden, und stünden den Europäern näher als | |
| unseren Nachbarn. Schon in der Schule haben wir gelernt, auf vermeintlich | |
| Schwächere herabzuschauen. Es ist also anekdotisch, dass die Figuren in | |
| diesem Stück bayerisch gekleidet sind. Es könnte ebenso gut in Chile | |
| spielen oder in Spanien, dem Land, das uns kolonisiert hat. | |
| taz: Die Wesen im Stück haben sich freiwillig auf einen Wanderplaneten | |
| begeben, um dort Rituale zu pflegen, die auf der Erde mittlerweile verboten | |
| sind wie etwa das Essen von Fleisch. Welche Idee steckt dahinter? | |
| Layera: Wenn die hegemoniale Kultur sich bedroht sieht, zieht sie sich auf | |
| sich selbst zurück, wird endogam. Progressivität ruft heute sehr starke | |
| Gegenreaktionen hervor. Auch in Chile mehren sich Stimmen, die fordern: | |
| Lasst uns zurückkehren zu dem, was wir gewesen sind. Dazu gehört auch das | |
| Festhalten an sinnentleerten Ritualen, wie es die Feier zur chilenischen | |
| Unabhängigkeit oder das Oktoberfest meiner Ansicht nach sind: Diese Feste | |
| sind eine bloße Einladung zum Konsum und transformieren die Menschen zu | |
| großen, alles verschlingenden Wesen. Als ob der erste, der ins Alkoholkoma | |
| fällt, einen Jackpot gewinnen würde. | |
| taz: Auf der Bühne werden diese beiden Tendenzen einer Gruppe als Inzest | |
| und Kannibalismus überzeichnet. Wollten Sie Monster zeigen? | |
| Layera: Ich wollte eine Kultur zeigen, die hegemonial ist, aber auch | |
| entwurzelt, und die an einem lebensfeindlichen Ort ums Überleben kämpft. | |
| Dass diese Wesen Schmerz empfinden und wir mit ihnen mitleiden können, war | |
| für mich ganz wichtig. Das ist die Herausforderung: Empathie empfinden mit | |
| einem Monster, dessen Meinungen und Werte ich nicht teile. Ob uns das | |
| gelungen ist, muss das Publikum entscheiden. Bei meinem Sohn jedenfalls | |
| funktioniert es: Ihm erzähle ich das Stück wie ein Märchen und es macht ihn | |
| traurig, dass diese Wesen Erde essen, ohne Licht leben müssen und von | |
| unserem Planeten träumen, auf den sie nie zurückkönnen. | |
| taz: Schon Ihre Vorgängerproduktionen „Oasis de la impunidad“ und „Die | |
| Möglichkeit von Zärtlichkeit“ entstanden in Zusammenarbeit mit den Münchner | |
| Kammerspielen. Wie hat sie sich gestaltet? | |
| Layera: Sie begann eigentlich schon während der Intendanz von Matthias | |
| Lilienthal, nur kam dann Corona dazwischen. Ich empfinde eine große | |
| Dankbarkeit dafür. Während der Pandemie haben wir ein Jahr und acht Monate | |
| gar nicht arbeiten können, weil die Einschränkungen in Chile drakonisch | |
| waren. Ohne die Kammerspiele, das F.I.N.D.-Festival der Schaubühne und | |
| andere europäische Partner, deren Unterstützung von den Dramaturgen Elisa | |
| Leroy und Martín Valdés-Stauber koordiniert worden ist, wäre uns der | |
| Neustart danach nicht möglich gewesen. In Chile Theater zu machen ist | |
| schwer. | |
| taz: Warum? | |
| Layera: In Chile hat kein Theater ein Ensemble und erst in den letzten | |
| Jahren haben die Kulturzentren Gabriela Mistral und Matucana 100 in | |
| Santiago de Chile begonnen, mit sehr unterschiedlichen Budgets die | |
| Kreativen im Theaterbereich zu unterstützen. Aber nur sehr wenige haben | |
| Zugang zu dieser Unterstützung. Ich gehöre dazu. Ich bin ein | |
| Privilegierter, und das erlaubt es mir inzwischen, meinem Team einen | |
| würdigen, fairen Lohn zu zahlen. | |
| taz: Wie haben Sie das vorher gehandhabt? Ihre Gruppe besteht ja schon seit | |
| 2008? | |
| Layera: Die ersten zwei Jahre haben wir nachts geprobt und tagsüber | |
| gekellnert. Gleich unser erstes Projekt hat uns Türen geöffnet zu | |
| internationalen Partnern. Während wir damit tourten, haben wir finanzielle | |
| Rücklagen aufgebaut, um neue Arbeiten auch ohne Co-Produzenten entwickeln | |
| zu können. Aber man kommt da sehr schnell an Grenzen. In Chile machen wir | |
| Theater, weil wir hungrig sind, weil wir es brauchen. Auch wenn wir kein | |
| Geld haben. Ich möchte das aber nicht romantisieren. Ich habe viele | |
| Mitstreiter, die allmählich müde werden. Und es tut weh, das zu sehen. | |
| taz: Ihre Kompanie heißt La Re-sentida, Die Nachtragende. Ist das | |
| Sich-Erinnern an die Gewaltgeschichte des eigenen Landes ein durchgängiges | |
| Motiv in Ihrer Arbeit? | |
| Layera: Ja, wir machen Theater für unsere Generation, die das Gefühl hat, | |
| eine Wunde zu tragen, die nicht verheilt und weiterschmerzt, uns aber auch | |
| die Kraft der Empörung und Wut gibt. Ich habe ein gespaltenes Verhältnis zu | |
| meinem Land. Ich liebe und hasse es. Ich bin aufgerufen, stolz zu sein, | |
| aber worauf? Auf den Genozid an den Ureinwohnern oder darauf, dass so viele | |
| meiner Landsleute die Militärdiktatur Pinochets unterstützten? | |
| taz: Eine Ihrer Produktionen heißt auf Deutsch „Der Versuch, ein Stück zu | |
| machen, das die Welt verändert“. Wie schätzen Sie das politische Potenzial | |
| von Theater aktuell ein? | |
| Layera: Ich möchte daran glauben, obwohl man heute sieht, dass die Effekte | |
| von Theater klein sind. Aber es gibt auch eine Mikropolitik, die in unserer | |
| Kompanie lebt und in der Gemeinschaft mit unserem Publikum. Das ist auch | |
| schon etwas. Und die Kunst insgesamt hat zu den sozialen Aufständen in | |
| Chile 2019 ein Sandkörnchen hinzugefügt. Die Rechten wissen inzwischen, wie | |
| wichtig die Kultur für eine demokratische Gesellschaft ist. Das ist | |
| gefährlich. Wenn sie wieder an die Macht gelangen, und das ist zumindest in | |
| Chile so gut wie sicher, werden sie ihre Leute in den Kulturinstitutionen | |
| installieren. | |
| Die Übersetzung erfolgte durch den Dramaturgen und Co-Autor Martín | |
| Valdés-Stauber | |
| 17 Oct 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sabine Leucht | |
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