Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Roman „Trauriger Tiger“ über Missbrauch: Der Hölle de facto e…
> Es ist eine Sache, für die es keine Sprache gibt: der Missbrauch an
> Kindern. Neige Sinno hat dennoch ein bemerkenswertes Buch darüber
> geschrieben.
Bild: Französische Autorin Neige Sinno
Neige Sinno muss etwa neun Jahre als gewesen sein, als ihr Stiefvater sie
zum ersten Mal vergewaltigt, 15, als es aufhört, 21, als sie ihn anzeigt,
44, als sie ein Buch darüber schreibt. „Trauriger Tiger“ ist die
literarische Sensation des letzten Jahres aus Frankreich, vielfach
ausgezeichnet, vielfach verkauft. Sinno, 1977 in der französischen Region
Hautes-Alpes geboren, schreibt über den schweren [1][sexuellen Missbrauch],
den sie als Kind über Jahre hinweg durch ihren Stiefvater erfuhr.
Er ist damals Mitte zwanzig, der neue Ehemann der Mutter, gutaussehend,
dominant, bekommt mit der Mutter zwei weitere Kinder. Sinno ist ein kleines
Mädchen, eine herausragende Schülerin – und sie schweigt. Denn zu reden
hätte die Familie zerrüttet und ihre Mutter, die finanziell vom Stiefvater
abhängig ist, in noch größere Armut gestürzt.
Es ist der Keller, das Ehebett, das Kinderzimmer, der Dachboden, in denen
das Kind sich selbst in den Momenten des Missbrauchs beobachtet, von außen,
um sich vom eigenen Körper zu befreien. Erst als ihre Geschwister in das
Alter kommen, in dem der Missbrauch bei ihr begann, bricht sie schließlich
ihr Schweigen.
Die Geschichte erfahren die Leser:innen etappenweise. „Trauriger Tiger“
ist ein sprachlich dichtes, stilistisch aber fragmentiertes Werk. Sinno
springt zwischen verschiedenen Textformen, ihre Erinnerungen stehen
zwischen Zeitungsartikeln über ihr eigenes Gerichtsverfahren,
philosophischen Essays, Einordnungen aus der Literaturwissenschaft und
psychologischen Studien am Täter.
Die verschiedenen Texte wechseln sich abrupt ab, und doch gelingt es Sinno,
sie miteinander zu verweben und zu einem Ganzen werden zu lassen.
Überhaupt, ihr Thema lesbar zu machen: Diese sprachliche Abwechslung ist
notwendig; wann immer es zu dunkel wird, rettet sie sich in die
Abstraktion.
## Keine klassische Opfererzählung
In „Trauriger Tiger“ spricht die Autorin selbst. Akribisch spürt sie ihrem
eigenen Schmerz nach, bohrt sich von allen Seiten in die Materie ihres
Themas, fast, als wolle sie mit ihren tausend Fragen, Thesen und Argumenten
dem Thema die Luft zum Atmen nehmen. Dadurch entzieht sich ihre Sprache der
klassischen Opfererzählung. Sinno lehnt jegliche Ästhetisierung von Gewalt
und Grauen ab.
Die teils erschreckend detaillierten Beschreibungen dienen nicht dem
Voyeurismus, sondern sind notwendig, um das Material abzustecken. Ihr Buch
ist jedoch nicht der in Schriftform stattfindende Versuch einer
Selbsttherapie. Therapeutisches Schreiben, daran glaubt Sinno nicht, denn
„derjenige, der schreibt, ist de facto der Hölle bereits entkommen“.
Dabei ist sich der Text der Unmöglichkeit seines eigenen Unterfangens
bewusst. Wer selbst ein [2][Trauma] erlebt hat, weiß, dass es kaum möglich
ist, sein Erlebtes wirklich für andere begreifbar zu machen. Nichts kann
der Erfahrung vollumfänglich gerecht werden, jeder Satz scheint
unzureichend und damit schon falsch. „Ich weiß, dass die Wahrheit nicht in
der Sprache liegt“, schreibt Sinno. Für sie selbst sind es daher fiktionale
Werke, in die sie sich seit dem Kindesalter flüchtet. Bücher und der
Rückzug in die Fantasie werden zur „ureigenen Waffe“, einer Möglichkeit,
das Geschehene zu verarbeiten.
## Sich verständlich machen
Diese Leidenschaft trägt Früchte: Die Analysen anderer literarischer
Darstellungen des Missbrauchs machen einen wichtigen Teil des Buchs aus.
Immer wieder versucht Sinno, sich über andere Werke und Figuren dem
Erlebten zu nähern. Warlam Schalamow, Vladimir Nabokov, [3][Annie Ernaux,]
Margaux Fragoso; Sinno trägt sie unermüdlich zusammen, immer in der
Absicht, selbst besser zu verstehen und sich verständlich zu machen.
„Trauriger Tiger“ ist beides: der Versuch, dem schweren Trauma eines
Missbrauchs gerecht zu werden, und das gleichzeitige Scheitern daran. Aber
genau dieses Scheitern, die Erkenntnis, dass die Wahrheit niemals ganz
greifbar wird, lässt ihr Buch die Schwelle zur Fiktion übertreten und macht
es zu einem meisterhaften Stück Literatur.
Sinnos Buch ist daher weit mehr als eine Aufarbeitung eines Traumas. Es ist
eine vielschichtige Reflexion über Gewalt, Macht und die unlöschbaren
Spuren, die sie hinterlassen. So gelingt es Sinno, das Grauen des
Missbrauchs in eine Form zu bringen, ohne ihm seine Schärfe zu nehmen.
20 Oct 2024
## LINKS
[1] /Sexueller-Missbrauch-an-Kindern/!6042226
[2] /NGO-Chef-ueber-Traumata-in-der-Ukraine/!5950536
[3] /Annie-Ernaux-Familienleben-im-Film/!5901571
## AUTOREN
Livia Sarai Lergenmüller
## TAGS
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
Missbrauch
Literatur
Autorin
Familie
Hamburg
Sexualisierte Gewalt
Sexualisierte Gewalt
Missbrauchsbeauftragter
## ARTIKEL ZUM THEMA
Filmemacherin über Doku „Blinder Fleck“: „Ich gebe den Betroffenen ein S…
Es gibt Menschen, die erinnerten sich an Missbrauch in ihrer Kindheit, aber
die Justiz kann nichts finden. Liz Wieskerstrauch lässt sie zu Wort kommen.
Gewalt gegen Frauen: Und die Politik schweigt
Dank des Muts von Gisèle Pelicot sprechen wir endlich wieder über
sexualisierte Gewalt. Es ist Zeit, dass die Politik ihrer Verantwortung
nachkommt.
Unicef zu sexualisierter Gewalt: Eine von acht
Das Kinderhilfswerk Unicef legt erstmals Zahlen zu sexualisierter Gewalt
gegen Kinder vor. 370 Millionen Mädchen und Frauen weltweit seien
betroffen.
Missbrauchsbeauftragte über Prävention: „Erwachsene müssen Kinder schütze…
Kerstin Claus ist Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung. Sie plädiert
dafür, nicht in Angst und Hilflosigkeit zu verharren, sondern hinzuschauen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.