# taz.de -- Krieg im Libanon: Und über uns die Drohnen | |
> Die israelischen Luftangriffe auf den Süden der libanesischen Hauptstadt | |
> nehmen zu. Wie viele ist unsere Autorin deshalb in den Norden geflohen. | |
Bild: „Paris des Nahen Ostens“- dieser Beiname Beiruts scheint wie aus eine… | |
Beirut taz | Beinahe still ist es derzeit im Viertel Bir Hassan. Die | |
typischen Hintergrundgeräusche einer libanesischen Stadt – fahrende Autos | |
und Motorroller, das Brummen der Dieselgeneratoren, die Gespräche auf den | |
Balkonen – sind verstummt. Die meisten Bewohnerinnen und Bewohner der | |
südlichen Vorstädte von Beirut – und damit auch Bir Hassans – haben ihre | |
Wohnungen verlassen. | |
[1][Sie flüchteten] nach dem Nachmittag des 27. September. Ein Luftangriff | |
des israelischen Militärs zielte auf Hisbollah-Chef [2][Hassan Nasrallah], | |
der sich zu diesem Zeitpunkt mit Hisbollah-Kadern und mindestens einem | |
Offiziellen der Islamischen Revolutionsgarde des Iran traf. Dabei kamen | |
wohl bunkerbrechende Bomben zum Einsatz, die Detonation war kilometerweit | |
zu spüren. Aus der Ferne sah ich eine Wolke aus schwarzem Rauch, die immer | |
weiter anwuchs. In der Nacht darauf flog das Militär weitere Angriffe, der | |
Krieg rückte näher heran. | |
[3][Diese Nacht verbrachte ich bei Freunden, die Luftangriffe so nah, dass | |
die Scheiben klirrten und das Gebäude bebte]. Danach begann der Exodus aus | |
Bir Hassan Richtung Nordbeirut und der libanesischen Berge. Meine Freunde | |
und ich, wir gingen auch. | |
## Der Süden ist schiitisch | |
Bis dahin hatten wir uns in Bir Hassan recht sicher gefühlt, obwohl dort | |
auch vor dem 27. September schon Luftschläge zu hören waren. Wie der Rest | |
von Dahiyeh ist Bir Hassan sehr schiitisch geprägt, die gemischt | |
schiitisch-christliche Familie meiner Freunde ist eine Ausnahme. Das | |
Viertel liegt zwar im Süden der libanesischen Hauptstadt und ist damit Teil | |
der Dahiyeh genannten Vororte. Wenn es einen Krieg mit Israel gibt, etwa | |
2006 oder jetzt, dann dort. Doch Haret Hreik, das Kerngebiet der Hisbollah | |
und damit auch das Herz des Kriegs, liegt etwa zwei Kilometer weiter | |
südöstlich. | |
Bir Hassan wirkt wie ein Grenzgebiet. Hier scheint die Kontrolle des | |
libanesischen Staats überzugehen in die der Hisbollah. Die libanesische | |
Armee ist hier präsent, an einem Checkpoint winkt normalerweise ein | |
gelangweilt wirkender Soldat kommentarlos die Autos durch. Seit einigen | |
Tagen steht dort auch ein Panzer. | |
Die libanesische Fahne ist in Bir Hassan selten zu sehen. Stattdessen | |
zieren die Flaggen der Hisbollah und der ebenfalls schiitischen Partei und | |
Miliz Amal die Stommasten. Ein Märtyrerplakat, darauf das Konterfei eines | |
vor vielen Jahren im Syrienkrieg getöteten Hisbollah-Mitglieds, hängt über | |
dem Eingang eines Gebäudes. Ganz in der Nähe befindet sich das | |
Landwirtschaftsministerium. | |
Fährt man von Bir Hassan weiter Richtung Südosten, werden die Straßen | |
enger, die Häuser stehen dichter aneinander. Der Krieg ist sehr viel | |
sichtbarer. Allein bei dem Luftschlag auf Nasrallah wurden hier nach | |
libanesischen Angaben sechs Wohnblöcke zerstört. | |
Erinnerungen werden wach. Mit einer Freundin und ihrer Tochter aß ich | |
letzten Sommer in Dahiyeh das wohl beste gegrillte Hähnchen Beiruts und | |
fütterte mit den Resten die frechen Straßenkatzen. Mit einer anderen | |
Freundin ging ich vor vielen Jahren in einer Outlet-Mall shoppen, die | |
Schuhe von Ivanka Trumps Modelabel verkaufte, wir lachten darüber. Die | |
Szenen des Alltags ließen die Plakate und Fahnen der Hisbollah in den | |
Hintergrund treten. | |
## Verschiedene Welten in einer Stadt | |
Schon 2017, als ich in Beirut studierte, warnte das Auswärtige Amt davor, | |
Dahiyeh zu besuchen – und auch einige Freunde aus meiner teuren, | |
französischsprachigen Universität in Nordbeirut erklärten beinahe mit | |
Stolz, noch nie dort gewesen zu sein. Einmal bat ich einen Freund, mich in | |
Bir Hassan abzuholen. Befände ich mich nur ein bisschen weiter südlich, | |
sagte er damals, hätte ich ein Taxi nehmen müssen. Er stammt aus einer | |
maronitisch-christlichen Familie, Dahiyeh ist kein Teil seiner Welt. | |
Ich erinnere mich, wie ich mit anderen Freunden einmal nachts durch Haret | |
Hreik fuhr, das im Ramadan erst nach Sonnenuntergang lebendig wurde. Wir | |
hatten Lust auf libanesisches Eis – Blütengeschmack mit Pistazienstückchen | |
– und in Haret Hreik konnte man das auch um zwei Uhr morgens noch bekommen. | |
Während wir durch die Straßen fuhren, sagte ein Freund damals: „Ich | |
verstehe nicht, warum man hier ein Geschäft eröffnet. Wenn es Krieg mit | |
Israel gibt, wird hier alles wieder zerstört.“ Sieben Jahre später ist es | |
so gekommen. | |
Der Libanesische Bürgerkrieg, in dem sich unter anderem die Christen und | |
Schiiten bekämpften, tobte von 1975 bis 1990. Doch Beirut ist auch heute | |
noch eine geteilte Stadt. Der Süden ist schiitisch geprägt, der Osten | |
christlich, der Westen eher sunnitisch. Und nun, im Krieg mit Israel, | |
werden die Differenzen zwischen den Angehörigen der verschiedenen | |
Religionen noch größer. | |
Im Süden wird auf Märtyrerplakaten der getötete Hisbollah-Chef Nasrallah | |
als Held des libanesischen Widerstands verehrt. In Dahiyeh hängen sie | |
überall, ebenso Plakate zu Ehren seiner Anhänger. Normalerweise ist die | |
Hisbollah-Fahne darauf abgebildet – ein gelber Hintergrund, auf dem in Grün | |
kalligrafisch „Hizb Allah“, Partei Gottes, zu lesen ist. Das A wird zu | |
einer ausgestreckten Hand, die ein Sturmgewehr hält. Die Nasrallah-Plakate | |
ziehen sich entlang der Autobahn Richtung Norden, auf ihnen ist die | |
libanesische Fahne zu sehen. | |
## Der Norden ist christlich | |
Noch weiter im Norden dann werden auf Werbetafeln wieder Produkte | |
angeboten, etwa ein Streichkäse, bei dessen Kauf man 3.000 US-Dollar für | |
die Schulausstattung des eigenen Kinds gewinnen kann. Aufgehängt wurden sie | |
vor der jüngsten Eskalation des Kriegs. Mittlerweile sind viele Schulen zu | |
Notunterkünften für aus dem Südlibanon und aus Südbeirut Geflüchtete | |
geworden, der Unterricht fällt aus. Nur Privatschulen in als sicher | |
geltenden Gegenden haben nach den Sommerferien geöffnet. | |
Zu diesen vermeintlich sicheren Gegenden gehören Gemmayzeh und Mar Mikhael. | |
Sie liegen ganz im Nordosten der Stadt. Gemmayzeh ist normalerweise ein | |
Restaurant-, Mar Mikhael ein Partyviertel, Bars, Lokale und | |
24-Stunden-Shops drängen sich aneinander. Sonst ist es hier laut bis spät | |
in die Nacht. Nun scheinen die Orte fast wie ausgestorben. Auch viele | |
Ausländer, die hier sonst essen und feiern, haben den Libanon verlassen. | |
Die Hotels und Ferienwohnungen sind trotzdem belegt. Die aus dem Süden | |
Geflohenen, die es sich leisten können, haben sich hier eingemietet. In der | |
Lobby eines kleinen Boutiquehotels erzählt ein junger Mann, er teile sich | |
mit seiner Familie dort ein kleines Studio, immerhin gebe es einen | |
Kühlschrank. Ein anderer trägt eine Matratze ins Gebäude. Statt zwei | |
Personen pro Doppelzimmer beherbergt das Hotel nun Hunderte Menschen. | |
Auch im Norden hängen Fahnen an den Strommasten, sie zeigen eine Zeder in | |
einem roten Kreis: die Flagge der Lebanese Forces, einer christlich | |
geprägten Partei und ehemaligen Miliz. Sie ist einer der Widersacher der | |
Hisbollah im Libanon. Ihr Parteiführer bezichtigt die Hisbollah, „den | |
Libanesen die Entscheidung über Krieg und Frieden zu nehmen, als seien wir | |
kein Staat“. Schon seit Beginn dieser Runde des Kriegs am 8. Oktober 2023 | |
sprechen sich die Lebanese Forces immer wieder gegen die Hisbollah aus. | |
## Drohende Drohnen | |
Neben Mar Mikhael und Gemmayzeh liegt Achrafieh, ein sehr wohlhabendes, | |
christliches Viertel. Auf dem zentralen Sassineplatz patrouillieren | |
Soldaten. Ein Denkmal erinnert an Bachir Gemayel, der im Jahr 1982 zum | |
Präsidenten gekürt und noch vor Amtsantritt ermordet wurde. Seine | |
christlich-rechts geprägte Kataeb-Partei kollaborierte im Bürgerkrieg mit | |
Israel und ist neben den Lebanese Forces eine der schärfsten Kritikerinnen | |
der Hisbollah. | |
In Achrafieh komme ich unter. Meine aus Bir Hassan geflüchtete Freundin | |
soll ebenfalls einziehen. Die Anfrage, ob auch ihre Mutter zwei Nächte | |
bleiben könne, bis sie zu einer Verwandten in die als sicher geltenden | |
Berge ziehen kann, lehnt der Vermieter ab. Man wolle nicht noch mehr neue | |
Leute im Gebäude. In den sozialen Medien häufen sich ähnliche Berichte: | |
dass Vermieter Menschen aus Dahiyeh ablehnten – etwa Kopftuch tragende | |
Frauen. Meine Freundin entscheidet sich schließlich, nach Bir Hassan | |
zurückzugehen. | |
Die Sorge, dass man selbst zum Ziel werden könnte, wenn ein | |
Hisbollah-Mitglied nebenan einzieht, ist nachvollziehbar. Doch die | |
pauschale Ablehnung, die vielen Geflohenen aus dem Süden der Stadt | |
entgegenschlägt, lässt die Gräben im Land noch wachsen. | |
Auch in Achrafieh ist es still. Läden schließen früher, die Straßen sind | |
leerer. Obwohl das Viertel als hisbollahfrei und damit sicher gilt, haben | |
einige es wohl schon verlassen. Der Verkehr und die Stromgeneratoren sind | |
im Norden noch nicht verstummt. Dennoch hört man – wie im südlichen Bir | |
Hassan – ununterbrochen die Aufklärungsdrohne. [4][Der Krieg ist weiter | |
weg]. Und trotzdem so nah. | |
11 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Lisa Schneider | |
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