| # taz.de -- Vertreibung aus Sudan: Einst Kolonialisten, heute in Angst vor den … | |
| > Italien beherrschte einst mit Gewalt die Region am Horn von Afrika. Heute | |
| > wirft Rom Menschen von dort vor, als „Invasoren“ nach Europa zu kommen. | |
| Bild: Von der Kolonialmacht zum Abschotter: Italien | |
| Milan taz | Als die übrigen europäischen Mächte sich ihren „Wettlauf um | |
| Afrika“ lieferten, hatte das damals noch junge Königreich Italien lange | |
| eine Zuschauerrolle. Erst spät begann es, sich für Afrika zu interessieren. | |
| Unter anderem streckte es per „Kooperationsvertrag“ seine Fühler nach | |
| Tunesien aus, das sich Frankreich allerdings 1881 mit Gewalt als | |
| Protektorat einverleibte. Die „Tunis-Ohrfeige“ – so die italienische | |
| Redewendung für die koloniale Offensive des Nachbarlandes – durchkreuzte | |
| Italiens Pläne, eine der letzten reichen und freien Regionen Nordafrikas zu | |
| erobern. | |
| So verlagerte Italien [1][seine kolonialen Ambitionen] zum Horn von Afrika. | |
| In Eritrea sicherte es sich den Zugang zum Roten Meer in der Bucht von | |
| Assab und drang weiter nach Abessinien, in das heutige Äthiopien vor. Die | |
| Niederlage Italiens in der Schlacht von Adwa 1896 gegen die äthiopische | |
| Armee stoppte den Vormarsch bis 1905. Dann eroberte Italien zunächst | |
| Somalia, im Italo-Türkischen Krieg von 1911 erlangte es dann die Kontrolle | |
| über das heutige Libyen. | |
| Der Aufstieg des Faschismus und Mussolinis war auch getrieben vom Wunsch | |
| nach Rache für vergangene Niederlagen. 1936 begann Italien mit der brutalen | |
| Besetzung Abessiniens und erklärte die Geburt des „italienischen Reiches“. | |
| Mussolinis Träume vom Ruhm wurden jedoch bald zunichtegemacht, als Italien | |
| den Zweiten Weltkrieg verlor. | |
| Bis heute aber hält sich für diese Zeiten das Schlagwort von den „Italiani, | |
| brava gente“, dem „guten Volk der Italiener“ – ein Mythos über die | |
| koloniale Vergangenheit des Landes, die in Wirklichkeit von Gewalt und | |
| Kriegsverbrechen geprägt war. Die Rede von den „guten Italienern“ ist ein | |
| Zerrbild der Geschichte, in dem Italien nur in Afrika gewesen sei, um es zu | |
| „zivilisieren“. | |
| ## Zahlreiche Menschenrechtsverletzungen begangen | |
| Tatsächlich litt Italien Ende des 19. Jahrhunderts an der Unterentwicklung | |
| seiner Industrie und seines Bildungswesens. Hunderttausende wanderten nach | |
| Amerika oder Australien aus. Das italienische Kolonialprojekt wollte auch | |
| die Auswanderung in die eigenen afrikanischen Kolonien umleiten. Dies | |
| scheiterte. Die Kolonialisten aber wüteten dort voller Brutalität. In | |
| Eritrea etwa richteten italienische Soldaten Massen von Rebellen hin oder | |
| deportierten sie in das Arbeitslager Nocra, wo die Gefangenen bei 50 Grad | |
| Hitze arbeiten mussten. | |
| Angelo Del Boca, ein bekannter italienischer Historiker, schrieb: „Der | |
| liberale Staat hinterließ dem Faschismus bedeutende Vermächtnisse wie | |
| aggressiven Militarismus, Erfahrung im Völkermord und Verachtung für | |
| afrikanische Völker.“ In Äthiopien beispielsweise verstieß General Pietro | |
| Badoglio gegen das Genfer Protokoll von 1925, indem er chemische Waffen | |
| gegen äthiopische Widerstandskämpfer und 20.000 Flüchtlinge im | |
| Amba-Aradam-Massiv einsetzte. | |
| Rodolfo Graziani, der 1936 von Mussolini zum Vizekönig ernannt wurde, | |
| führte den Völkermord an der Bruderschaft der Senussi in Libyen an, die | |
| beschuldigt wurde, den libyschen Widerstand zu unterstützen. Graziani | |
| ordnete Massaker in Addis Abeba und Debra Libanos in Äthiopien an. Die | |
| Rassengesetze von 1938 verboten Mischehen, um zu verhindern, dass | |
| „gemischtrassige Kinder, die manchmal sogar von ihren italienischen Vätern | |
| anerkannt wurden, dem Ansehen der Rasse schadeten“. | |
| Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde über die rassistische und koloniale | |
| Geschichte Italiens lange geschwiegen. In Rom gibt es bis heute eine | |
| Amba-Aradam-Straße. Historiker wie Angelo Del Boca und andere haben das | |
| Land dann gezwungen, sich seiner dunklen Vergangenheit zu stellen, und | |
| gezeigt, dass der Kolonialismus Italiens nicht weniger brutal war als der | |
| anderer europäischer Mächte. | |
| Auch italienisch-afrikanische Schriftsteller und Journalisten und die | |
| antirassistischen Bewegungen trugen dazu bei, die kollektive Erzählung über | |
| die Massaker der italienischen Kolonialherren zu ändern. 2023 wurde | |
| vorgeschlagen, den 19. Februar – das Datum des Massakers von Addis Abeba im | |
| Jahr 1937 – zum Gedenktag für die Opfer des italienischen Kolonialismus zu | |
| erklären. | |
| ## Tunesien bekommt 100 Millionen Euro aus Italien | |
| Vor Kurzem [2][hat die Regierung Giorgia Melonis] ein neues | |
| Entwicklungsprogramm für afrikanische Länder vorgestellt. Der sogenannte | |
| Mattei-Plan trägt den Namen des Gründungspräsidenten des italienischen | |
| Energiekonzerns ENI, Enrico Mattei. Er sieht neben Projekten zur | |
| Energieversorgung auch den Kampf gegen die irreguläre Migration und einen | |
| Ausbau der Infrastruktur vor – der wiederum der italienischen | |
| Agrarindustrie zugutekommen soll. Afrikaner:innen waren an den | |
| Planungen nicht beteiligt. | |
| [3][Tunesien bekam aus Italien 100 Millionen Euro, um die Fahrten Richtung | |
| Italien von seiner Küste aus zu stoppen] und so eine der wichtigsten | |
| Fluchtrouten für Menschen auch aus Sudan zu schließen. Und schon seit | |
| Jahren ist Italien in Libyen präsent, damit die Regierung auch dort die | |
| Fahrten Richtung Italien unterbindet. | |
| 2023, im ersten Jahr des Sudankriegs, waren noch etwa 6.000 | |
| Sudaner:innen in Italien angekommen – eine Verdoppelung im Vergleich | |
| zum Vorjahr. Etwa 5.000 kamen über Tunesien, etwa 1.000 über Libyen. In | |
| diesem Jahr ist die Zahl der Ankommenden um mehr als 60 Prozent gefallen. | |
| Von Januar bis Oktober 2024 kamen über den Seeweg gerade einmal 240 | |
| Sudaner:innen. Die Mittelmeerroute ist dabei nach wie vor eine der | |
| gefährlichsten Migrationsrouten der Welt. | |
| Die Regierung Melonis prahlt heute damit, die „Landungen eingedämmt“ zu | |
| haben. Die Phantomschiffswracks, die Todesfälle in der Wüste und die | |
| Gewalt, der Menschen in Libyen und Tunesien und auf dem Meer ausgesetzt | |
| sind, erwähnt sie nicht. | |
| ## „Sudan ist ein wunderschönes Land“ | |
| Yasim*, ein sudanesischer Flüchtling und Mitglied der Sudanese Refugee | |
| Association in Turin, berichtet von seiner Reise: „Sudan ist ein | |
| abgeriegeltes Land, in dem jeden Tag Menschen massakriert werden. Wer | |
| versucht, Libyen oder Ägypten zu erreichen, steht vor der Wüste und, wenn | |
| er überlebt, vor der gefährlichen Seereise.“ Er selbst floh vor dem | |
| Militärdienst in Darfur und kam 2015 in Italien an. „Ich hatte Glück, aber | |
| in der Sahara habe ich viele Leichen gesehen“, sagt Yasim. „Sudan ist ein | |
| wunderschönes Land. Wenn es keinen Krieg gäbe, würde niemand wegwollen.“ | |
| Viele Migrant:innen wollen nicht in Italien bleiben. Einige beantragen | |
| dennoch Asyl, andere entscheiden sich für die Weiterreise, wenn sich das | |
| Verfahren in die Länge zieht. Doch die ist beschwerlich. An der | |
| französisch-italienischen Grenze in Ventimiglia schiebt die französische | |
| Polizei Geflüchtete direkt zurück. Im Gebiet um Oulx nahe Turin, an der | |
| alpinen Grenze zu Frankreich, ist die sudanesische Gemeinschaft aktiv. | |
| Viele überqueren die Grenze hier, um zu Verwandten in anderen Ländern zu | |
| gelangen. | |
| „Die Menschen erzählen uns von schrecklichen Reisen, von der Schleusung | |
| über das Mittelmeer als blinde Passagiere“, sagt Piero Gorza, Anthropologe | |
| und Präsident des Vereins No Borders in Oulx. „Sie reisen in Gruppen und | |
| versuchen, die Schulden, die sie bei den Schleppern haben, zurückzuzahlen, | |
| indem sie so schnell wie möglich Arbeit im Ausland finden.“ Bis heute ist | |
| Italien Knotenpunkt für Migrationsrouten aus Ex-Kolonien des britischen und | |
| französischen Empires – und auch mit der Migration aus Ostafrika, der von | |
| Italien kolonisierten Region, konfrontiert. | |
| Doch der erstarkende Nationalismus in Italien lässt die Ablehnung dieser | |
| Migrant:innen wachsen. Ihnen wird vorgeworfen, als „Invasoren“ die | |
| italienische Identität zu bedrohen. Und die Politik der aktuellen und der | |
| Vorgängerregierungen gefährden heute das Leben derer, die versuchen, aus | |
| Afrika nach Europa zu gelangen. | |
| * Name geändert | |
| 3 Nov 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Alessia Manzi | |
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