# taz.de -- Alltag in Washington, D.C.: Im Land der vielen | |
> Brüllende Trumpwähler, luxuriöse Bio-Supermärkte und die Geschichte der | |
> USA fast ohne Sklaverei. Unser Autor wirft sich in die Ambivalenzen der | |
> USA. | |
Bild: Das Kapitol in Washington im Sonnenuntergang | |
An meinem ersten Tag [1][in Washington, D. C.,] spaziere ich zum Weißen | |
Haus, vor dem Touristen Selfie-Orgien feiern. Ich darf hier sein, weil ich | |
ein Stipendium bekommen habe, das in Gedenken an den ehemaligen | |
taz-Kollegen Daniel Haufler ausgeschrieben worden ist. | |
Vor dem Weißen Haus sitzt ein Schwarzer Mann unter einem Sonnenschirm, an | |
dem er ein Plakat befestigt hat: Hört auf, [2][euch zu hassen], weil ihr | |
verschiedener Ansichten seid. Vor dem Zaun, der das Weiße Haus vom belebten | |
Vorplatz trennt, protestieren an diesem Sonntag Frauen, die auf | |
Transparenten fragen: Wie lange müssen Frauen noch auf Gleichheit warten, | |
Herr Präsident? | |
Neben ihnen bringt sich eine Gruppe von Männern in weißen Gewändern in | |
Stellung. Einer schreit eine Aufstellung durch ein Megafon, als wäre er ein | |
Trainer und die kleine Demonstration ein Fußballspiel. Ich scheitere an | |
ihrem Transparent und verstehe nicht, wofür oder wogegen sie protestieren. | |
Die englische Übersetzung des Korans, die mir ein anderer anbietet, lehne | |
ich freundlich ab. | |
Hinter dem Weißen Haus, am Washington Monument, hat sich eine Kundgebung | |
von [3][Verschwörungstheoretiker] Robert F. Kennedy zusammengefunden, dem | |
einstigen parteilosen Präsidentschaftskandidaten, der jetzt Donald Trump | |
unterstützt. Die Wut eines der geladenen Redner, die mir schon von Weitem | |
aus übersteuerten Lautsprechern entgegendröhnt, gilt dem politischen | |
Establishment. | |
## Trump-Fahnen, Russlandfahne und bunte Socken | |
Hier sitzen weiße Männer und Frauen auf Picknickdecken und Campingstühlen | |
und hören sich gebannt die Geschichten über die eigene Unterdrückung an. | |
Hier wehen Trump-Fahnen, hier hängt auch eine Russlandfahne und ein Hippie | |
mit bunten Socken taumelt durch die Menge genauso wie ein Mann im | |
Schafskostüm. | |
Hier tragen Männer mit betroffenen Blicken T-Shirts, auf denen steht, dass | |
man auf diejenigen hören solle, die zum Schweigen gebracht worden seien, | |
oder dass Nachdenken Ungehorsam bedeute oder irgendetwas mit mutigen und | |
standhaften Bürgern. | |
Der 169 Meter hohe, von 50 US-Flaggen umzingelte Obelisk des Washington | |
Monument wirkt bei dieser Veranstaltung wie das letzte Relikt aus einer | |
Zeit, in der echte Männer noch echte Männer sein durften. Die sentimentalen | |
Country-Lieder der geladenen Künstler verstärken die passiv-aggressive | |
Nostalgie. | |
## 15 Minuten Geschichte | |
Ein paar Meter weiter unten an der Kreuzung verkauft ein Mann an einem | |
Stand Trump-Merch, die bekannte rote Basecap mit dem Slogan vom großen | |
Amerika und T-Shirts mit dem Attentatmotiv. Auf der anderen Seite der | |
Straße steht das Nationale Museum für afroamerikanische Geschichte und | |
Kultur mit seiner Fassade aus bronzefarbenem Gittergewebe. | |
Hier hängt ein Boxermantel von Muhammad Ali und steht eine Statue der | |
afroamerikanischen Sprinter Tommie Smith und John Carlos, die bei den | |
Olympischen Spielen in Mexiko-Stadt 1968 ihre Fäuste zum Black-Power-Gruß | |
erhoben hatten. | |
Vor dem Museum handelt ein anderer Mann mit Kappen und T-Shirts mit Motiven | |
von Kamala Harris. Dahinter geht ein Umzug der örtlichen Latino-Communitys | |
mit Musik und Tanzgruppen vorbei und reißt mich und andere weg von der | |
miesen Stimmung am Obelisken. | |
## Eine naive Faszination | |
An meinem letzten Tag besuche ich das Kapitol am Kongress der USA. Bevor | |
ich in die beeindruckende Rotunde darf, bekomme ich in einem Kinosaal eine | |
15-minütige Zusammenfassung der US-Geschichte präsentiert, in der viel von | |
Entdeckern und Helden die Rede ist, kaum von Sklaverei. | |
Vom Wappenspruch der Vereinigten Staaten, der in diesem Film mit | |
spektakulären Naturaufnahmen des Landes in Szene gesetzt wird, lass ich | |
mich trotz kritischer Distanz beeindrucken: E pluribus unum – Aus vielen | |
eins. Was für eine schöne Idee! Was für eine Utopie! Was für ein | |
großartiges Projekt, für das es sich zu kämpfen lohnt! | |
Als ich später zuerst am teuren Biosupermarkt, von dessen Sortiment man in | |
Prenzlauer Berg nur träumen kann, und dann an den Zelten der Obdachlosen | |
auf einer Verkehrsinsel vorbeigehe, ist mir meine naive Faszination | |
peinlich. | |
10 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Volkan Ağar | |
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