# taz.de -- Neue Sprachmarotte: finger weg von versalien! | |
> Nicht nur Populist*innen, auch Normalos scheinen zunehmend Gefallen | |
> daran zu finden, jeden einzelnen Buchstaben großzuschreiben. Bitte | |
> aufhören. | |
Bild: ICH WILL AUCH WAS SAGEN!!! | |
Eigentlich haben weder meine Freund*innen noch meine Kolleg*innen in | |
der taz mit Donald Trump viel gemein. Doch es gibt eine Marotte, die einige | |
wenige von ihnen mit ihm teilen: [1][SIE LIEBEN ES, IN GROSSBUCHSTABEN ZU | |
KOMMUNIZIEREN!] Am besten noch mit einem oder mehreren Ausrufezeichen | |
hinter den Sätzen, die die Dringlichkeit des Anliegens ein weiteres Mal | |
unterstreichen. Es kommen dann Mails wie „BITTE UNBEDINGT LESEN“ oder „HAT | |
SICH ERLEDIGT!!“, manche Freunde immerhin scheinen die Großschreibung zu | |
ironisieren, wenn sie etwa einen Kinobesuch empfehlen: „SEEEHR GEILER | |
FILM“. | |
Die vermehrte Schreibweise in Versalien ist wahrlich kein neues Phänomen. | |
Schon 2017 begründete der Rat für deutsche Rechtschreibung die Einführung | |
des „ß“ als Großbuchstaben mit einem generellen Trend zur Schreibweise in | |
Großbuchstaben in der Werbung und auch in Büchern. Ein Ärgernis bleibt sie | |
trotzdem. DU MUSST DOCH NICHT GLEICH LAUT WERDEN, will ich zugegebenermaßen | |
oft direkt zurückgeben, wenn mich jemand in Versalien anschrei(b)t. | |
Doch man kann nicht mal richtig böse sein, denn natürlich leben wir in | |
Zeiten der Großbuchstaben. Egal auf welchen Kanälen, es wird immer schwerer | |
mit etwas (über einen längeren Zeitraum als fünf Minuten) durchzudringen, | |
die völlig veränderte Aufmerksamkeitsökonomie ist ein Grund für die | |
typografische Schreierei. Mit X und Tiktok hat sich ohnehin der „Diskurs“ | |
des Brüllens durchgesetzt. | |
Maximilian Krah (AfD) etwa ist mit Großbuchstaben auf Tiktok vorn dabei, | |
auch Markus Söder (CSU) nutzt gelegentlich Versalien, um mal etwas | |
klarzustellen. Populistische Zeiten, populistische Zeichen. | |
## linke schreiben lieber klein | |
in linken kreisen dagegen war es ja lange en vogue, alles | |
[2][kleinzuschreiben]. nicht umsonst halten sie eine zeitung in der hand, | |
die „wochentaz“ und nicht „Wochen-Taz“ heißt, die tägliche ausgabe | |
verzichtet seit oktober 1982 auf das große „T“ im Titelkopf und heißt | |
seither „die tageszeitung“. im jahr 2004 gab es eine ausgabe ausschließlich | |
mit kleinschreibung als reaktion auf die ankündigung einiger verlage, zur | |
alten rechtschreibung zurückzukehren. | |
[3][schon das progressive bauhaus] hat sich übrigens für die | |
kleinschreibung eingesetzt, aus zeitökonomischen gründen: „wir schreiben | |
alles klein, denn wir sparen damit zeit“. gut, dieses argument ist nicht | |
mehr so stark, dürfte einer wie donald trump doch ohnehin die umschalttaste | |
wie ein ständig durchgetretenes gaspedal nutzen. die bezeichnung capslock | |
(feststelltaste) hat es sogar ins urban dictionary geschafft; sie | |
bezeichnet jemanden, der unabdinglich schreit. | |
Es gibt jedoch auch historisch-ästhetische und logische Gründe, die gegen | |
eine durchgängige Verwendung von Majuskeln, so der Fachausdruck für | |
Großbuchstaben, sprechen. Sie dienten und dienen der Hervorhebung, | |
verfehlen somit ihren Zweck, wenn sie durchgängig auftauchen. | |
bitte um mäßigung | |
Im Deutschen hatte die Großschreibung im Mittelalter Konjunktur; später, im | |
17. und 18. Jahrhundert, diente die sogenannte Doppelmajuskel dazu, | |
religiöse Autoritäten hervorzuheben („GOtt“, „HErr“). Antiaufkläreri… | |
der Neuzeit befürworteten dann viele Sprachästhet*innen auch deshalb | |
die Kleinschreibung, weil sie leichter lesbar schien. | |
Natürlich kann man die Sprachpolitik nicht auf die kurze Formel | |
„Großschreibung = rechts und autoritär“ und „Kleinschreibung = links und | |
aufklärerisch“ bringen, beileibe nicht. Eine These aber wäre, dass der | |
reinen Großschreibung das So-ist-es-und-nicht-anders, das | |
Auf-den-Tisch-Hauen, das Unverrückbare eingeschrieben ist, der | |
Kleinschreibung hingegen das Es-könnte-auch-anders-sein und der Zweifel. | |
Zugegeben, das führt nur zu einer banalen, aber dafür um so wichtigeren | |
Einsicht: Wir sollten dringend gemäßigter, reflektierter und weniger | |
absolut miteinander diskutieren. | |
Einem Donald Trump braucht man damit natürlich nicht zu kommen, aber bei | |
manch anderen, die die UNZWEIFELHAFTE WAHRHEIT in Großbuchstaben in die | |
Welt posaunen, hat man vielleicht noch die Chance, Gehör zu finden. | |
7 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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