# taz.de -- Haftbedingungen in Italien: Elf Männer auf 33 Quadratmetern | |
> Italiens Gefängnisse sind völlig überfüllt. Gerade in heißen Sommer | |
> steigt die Zahl der Suizide. Eine Änderung der Lage ist nicht in Sicht. | |
Bild: „Lateinamerikanische Zustände“: Neapels Gefängnis Poggioreale | |
Jussef wurde nur 18 Jahre alt. Am 5. September verbrannte der junge Ägypter | |
in der Mailänder JVA San Vittore. Seine Matratze hatte er selber | |
angezündet. Ob mit suizidaler Absicht oder aus Protest gegen seine | |
Haftbedingungen, blieb offen. | |
Gerade erst war die in Italiens Medien den ganzen August über geführte | |
Diskussion über die Zustände in den Gefängnissen des Landes abgeflaut. Nun | |
kochte sie wieder hoch. [1][Carlo Nordio, Justizminister in der | |
Rechtsregierung unter Giorgia Meloni], meldete sich selbst mehrfach zu | |
Wort, und diverse Parteien, ob die Forza Italia (FI) aus dem | |
Regierungslager oder die gemäßigt linke Partito Democratico (PD) aus der | |
Opposition, schickten den ganzen Sommer über Parlamentarierdelegationen in | |
Anstalten im ganzen Land. | |
Nach ihrem Besuch in Neapels JVA Poggioreale brandmarkten die Vertreter der | |
PD nun „lateinamerikanische Zustände“. Aus dem norditalienischen Udine | |
berichteten letzte Woche wiederum die Abgeordneten der FI, die dortige JVA | |
sei mit 177 Insassen völlig überbelegt, es stünden regulär nur 95 | |
Haftplätze zur Verfügung. Es gelte dagegen, das Prinzip durchzusetzen, | |
dass, „wer seine Freiheit verliert, seine Würde nicht einbüßt“. | |
## 70 Suizide in der ersten Jahreshälfte | |
Befeuert wurde die Diskussion auch dadurch, dass im Juli und August immer | |
wieder Suizide hinter Gittern zu vermelden waren; im Jahr 2024 nahmen sich | |
bisher 70 Gefangene das Leben, mehr als jemals zuvor. Und gerade die | |
Suizide der letzten Monate dürften auch mit den unerträglichen | |
Haftbedingungen bei der extremen Hitze zwischen Juli und Anfang September | |
zu tun haben. | |
Unerträglich sind die Haftbedingungen aber vor allem, weil viele JVAs | |
heillos überfüllt sind. Auf dem Papier gibt es gut 50.000 Haftplätze im | |
Land, gegenwärtig jedoch sitzen 61.000 Menschen ein. Besonders betroffen | |
sind die JVAs in Neapel, Rom oder Mailand. Im dortigen Knast San Vittore, | |
in dem sich Jussef das Leben nahm, gibt es 1.100 Häftlinge auf 450 | |
regulären Plätzen; drängen sich elf Männer in einer 33-Quadratmeter-Zelle. | |
Auf dem Papier arbeiten immerhin 19.000 der Häftlinge – doch die meisten | |
verrichten schlicht Putzdienste oder helfen bei der Essensausgabe, während | |
gerade einmal 3.000 für externe, „echte“ Arbeitgeber tätig sind. Die | |
meisten dagegen sind in überfüllten Zellen sich selbst überlassen. Und | |
während die Zahl der Häftlinge die Kapazitäten sprengt, sind viele Stellen | |
beim Wachpersonal, im Gesundheitsdienst und bei den Gefängnispsychologen | |
unbesetzt. | |
Dass die Gefängnisse reine Verwahranstalten mit menschenunwürdigen | |
Bedingungen sind, dass auch deshalb die Rückfallquote nach der | |
Haftentlassung bei rund 60 Prozent liegt, ist jetzt auch Justizminister | |
Nordio aufgefallen. Schon im August legte er das „Decreto carceri“, das | |
„Gefängnisdekret“ vor: 1.000 neue Wachleute sollen eingestellt, monatlich | |
sollen Gefangenen zwei zusätzliche Telefonanrufe nach draußen eingeräumt | |
werden. Und jetzt, im September, verkündet Nordio: „15.000 bis 20.000“ | |
Häftlinge sollen in den nächsten Monaten die JVAs verlassen. | |
Inhaftierte Drogensüchtige sollen demnächst in therapeutische | |
Gemeinschaften überstellt werden. Ob es solche Plätze überhaupt gibt, sagt | |
Nordio nicht. Und die 30 Prozent ausländische Straftäter sollen ihre | |
Strafen zukünftig in ihren Heimatländern verbüßen. Mit denen ist operativ | |
aber gar nichts geregelt. | |
Und dann will der Minister noch dafür sorgen, dass die Ausländer leichter | |
in den Genuss von Hausarrest kommen. Der wird ihnen mangels regulärer | |
Wohnungen oft genug nicht eingeräumt. Deshalb wünscht sich Justizminister | |
Nordio ihre Unterbringung in von Sozialverbänden betriebenen Einrichtungen. | |
Doch auch hier unklar, ob solche Plätze überhaupt existieren. Nur eines ist | |
also relativ sicher: Auch im nächsten Sommer wird in Italien wieder über zu | |
volle Gefängnisse und unmenschliche Haftbedingungen diskutiert werden. | |
Haben Sie suizidale Gedanken? Dann sollten Sie sich unverzüglich ärztliche | |
und psychotherapeutische Hilfe holen. Bitte wenden Sie sich an die nächste | |
psychiatrische Klinik oder rufen Sie in akuten Fällen den Notruf an unter | |
112. Eine Liste mit weiteren Angeboten finden Sie unter | |
taz.de/suizidgedanken. | |
14 Sep 2024 | |
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## AUTOREN | |
Michael Braun | |
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