| # taz.de -- Nazis an der Macht in Weimar: Thüringen, der Mustergau | |
| > In Thüringen waren die Nazis während der Weimarer Republik früh indirekt, | |
| > später auch direkt an der Macht beteiligt. Entzaubert hat sie das nicht. | |
| Bild: Eine Demonstration der NSDAP auf dem Marktplatz in Weimar 1932 | |
| Mit der SA-Parole „Alles für Deutschland“ erfreute der Thüringer | |
| AfD-Vorsitzende Björn Höcke vor vier Jahren seine Fans. Dafür wurde er vor | |
| Kurzem zu einer Geldstrafe wegen des Verwendens von Kennzeichen | |
| verfassungswidriger Organisationen verurteilt. Seinen Wahlerfolg | |
| verhinderte das nicht. Das bewusst provokante Auftreten des Rechtsradikalen | |
| könnte vielmehr dazu beigetragen haben, dass bei der jüngsten Landtagswahl | |
| erstmals die AfD in Thüringen zur stärksten Partei gewählt worden ist. | |
| Nicht nur im Ausland werden besorgte Stimmen laut, die den Erfolg der | |
| Neurechten mit dem Sieg der altrechten NSDAP vergleichen. „Früher NSDAP. | |
| Heute AfD?“, fragt die polnische Tageszeitung Rzeczpospolita. | |
| Thüringen war Stammland der NSDAP. Am 23. Januar 1930 wurde mit Wilhelm | |
| Frick hier zum ersten Mal ein Nazi zum Minister einer deutschen | |
| Landesregierung gewählt, zuständig für Inneres und Volksbildung. So | |
| entwickelte sich Thüringen zum „Mustergau“ der Nazis in Deutschland – und | |
| dies drei Jahre vor ihrer Machtübernahme im Reich. Ist Thüringen also | |
| besonders anfällig für rechtsradikale Parolen? Wiederholt sich die | |
| Geschichte doch? | |
| Während der Weimarer Republik sah Thüringen geografisch anders aus: Der | |
| Freistaat entstand 1920 aus der Konkursmasse von sieben Fürstentümern. | |
| Preußische Landesteile wie die Stadt Erfurt zählten aber nicht zu dem neuen | |
| Land, Weimar war damals die Landeshauptstadt. | |
| ## Affinität für rechtsradikale Bewegungen | |
| Dass die Thüringer, ob mit oder ohne Erfurt, in den 1920er wie in den | |
| 2020er Jahren [1][eine gewisse Affinität für rechtsradikale Bewegungen | |
| besaßen und besitzen], ist unverkennbar. Der eigentliche Weimarer | |
| Sündenfall geschah aber nicht 1930 mit dem ersten Nazi-Minister, sondern | |
| sechs Jahre zuvor. Nach einer vom Reich aufgelösten „Volksfrontregierung“ | |
| aus SPD und KPD triumphierten 1924 angesichts von Geldentwertung und | |
| Verarmung die reaktionären Kräfte. „Das ganze Land kam auf den Hund, nun | |
| rettet nur der Ordnungsbund“: Mit dieser Parole erzielte der „Thüringer | |
| Ordnungsbund“ bei der Landtagswahl 48 Prozent. | |
| Es handelte sich um einen Zusammenschluss bürgerlicher Parteien von der | |
| liberalen DDP bis zur deutschnationalen DNVP. Doch weil 48 Prozent nicht | |
| zum Regieren reichten, schloss der seltsame Bund ein Abkommen mit der | |
| „Vereinigten Völkischen Liste“, einer Tarnorganisation der NSDAP, die nach | |
| dem Hitler-Putsch im November 1923 verboten worden war. | |
| Die Nazis waren durch dieses Abkommen indirekt an der Macht beteiligt. Das | |
| trug Früchte: Das Redeverbot für Hitler wurde in Thüringen früher als | |
| irgendwo anders schon 1924 aufgehoben, ebenso das Verbot der NSDAP. So | |
| wurde Thüringen zum Sammelhort der Nazis. Noch war die Partei aber klein – | |
| bei der Reichstagswahl 1928 erhielt sie lediglich 2,6 Prozent. | |
| Thüringen war bei Hitler und Konsorten beliebt. Der Reichsparteitag 1926 | |
| wurde in Weimar abgehalten, wo die Nazis auch die Hitlerjugend gründeten. | |
| Zeitweise überlegte Hitler, die Leitung der Partei von München in seine | |
| „Lieblingsstadt“ Weimar zu verlegen. Er durfte auch im Deutschen | |
| Nationaltheater sprechen – dort, wo 1919 die deutsche Nationalversammlung | |
| getagt und die Weimarer Verfassung beschlossen hatte. | |
| ## Keine Brandmauer gegen die NSDAP | |
| Eine ganze Reihe Karrieren später einflussreicher NS-Führer begann damals | |
| in Thüringen. [2][Anders als 2024 bei der AfD] konnte zu Weimarer Zeiten | |
| von einer Brandmauer gegenüber der NSDAP keine Rede sein. Im Gegenteil: Die | |
| nationalliberale DVP versicherte 1930, man stehe „weltanschaulich und | |
| politisch“ näher bei der Hitler-Partei als bei den Sozialdemokraten. | |
| In diesem Jahr kam es auch zum nächsten Sündenfall: der Koalitionsbildung | |
| zwischen einem Bündnis bürgerlicher Parteien und der NSDAP. Die hatte bei | |
| der Landtagswahl 11 Prozent erzielt. In der Stadt Weimar waren es sogar | |
| 23,8 Prozent. „Die Erbschaft der Deutschnationalen tritt die | |
| Nationalsozialistische Partei an“, kommentierte der sozialdemokratische | |
| Vorwärts damals. | |
| Keine der bürgerlichen Parteien war 1930 zur Zusammenarbeit mit der SPD | |
| bereit, die stärkste Partei im Landtag geworden war. Bei der | |
| Ursachenforschung zu dem frühen Erfolg der Nazis gilt diese Unfähigkeit der | |
| Konservativen zu einer Kooperation mit den Sozialdemokraten als zentrale | |
| Ursache. Eine solche Verweigerungshaltung gibt es vonseiten der CDU heute | |
| nicht. Aber: Von der SPD ist auch nicht viel übrig geblieben. | |
| Es war nicht so, dass damals niemand die Gefahren der NSDAP erkannt hätte. | |
| Der Vorwärts schrieb während der Koalitionsverhandlungen in Weimar: „Die | |
| Nationalsozialistische Partei erklärt so oft, als es nur verlangt wird, | |
| dass sie auf die Verfassung von Weimar pfeift. Ihre Redner versichern von | |
| der Tribüne des Reichstags herab, dass sie die politischen Führer der | |
| Mehrheit des deutschen Volkes aufzuhängen und zu köpfen beabsichtigen, | |
| falls sie zur Macht gelangen. Ausgerechnet diese Partei des Hochverrats und | |
| der Morddrohung soll künftig in Thüringen das Polizeiministerium führen.“ | |
| Um 1930 begannen in Deutschland die Morde an politischen Gegnern zum | |
| furchtbaren Alltag zu werden. Hitler versprach den Mördern von polnischen | |
| Landarbeitern nach einer Machtübernahme der NSDAP indirekt ihre | |
| Begnadigung. | |
| Da nehmen sich die Provokationen eines AfD-Chefs Höcke, der jüngst | |
| Anti-Nazi-Demonstranten vorwarf, sie agierten wie Nationalsozialisten, | |
| geradezu harmlos aus. Die Grundierung freilich ist dieselbe: Mit ihrer | |
| Forderung nach einem ethnisch reinen Staatswesen verfolgen beide Parteien | |
| eine völkische Weltsicht, nach der eine Mischung verschiedener Menschen und | |
| Kulturen von Übel sei. | |
| ## „Säuberung“ des Beamtenapparats | |
| Die Nazis erledigten die Thüringer „Probe aufs Exempel“ (Goebbels) ganz | |
| nach Hitlers Vorstellungen. Der Beamtenapparat wurde von unliebsamen Linken | |
| gesäubert. Fortan waren nationalistische Schulgebete Pflicht. Der | |
| „Rassekundler“ Hans F. K. Günther erhielt einen Lehrstuhl an der | |
| Universität Jena. Der Titel seiner Antrittsvorlesung lautete „Die Ursachen | |
| des Rasseverfalls des deutschen Volkes seit der Völkerwanderungszeit“. | |
| Doppelminister Wilhelm Frick ließ Bücher beschlagnahmen, [3][Komponisten | |
| entlassen und Kunstwerke entfernen], etwa von Otto Dix. | |
| Am Ende übertrieb es Frick und fiel 1931 einem Misstrauensvotum zum Opfer. | |
| Inzwischen waren die Nazis aber nicht nur in Thüringen zur Massenbewegung | |
| geworden. Bei der 1932 parallel zur Reichstagswahl abgehaltenen | |
| Landtagswahl erhielt die NSDAP 42,5 Prozent der Stimmen, im Reich waren es | |
| 37,3 Prozent. Fortan führten die Nazis die Landesregierung in Weimar, so | |
| wie schon in Anhalt, Oldenburg und Mecklenburg-Schwerin. Regierungschef | |
| wurde der spätere Massenmörder Fritz Sauckel. | |
| Was Thüringen sehr deutlich zeigt: Die Beteiligung der NSDAP an der Macht – | |
| indirekt ab 1924 und direkt ab 1930 – führte nicht dazu, dass die Nazis | |
| entzaubert worden sind. | |
| 7 Sep 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Klaus Hillenbrand | |
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