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# taz.de -- Alte Freunde auf Facebook: Wollt ihr meine Jelly Babys sein?
> Ein Klassentreffen nach 30 Jahren. Was man dabei über die Schulzeit
> während der 90er Jahre lernen kann und was das mit Facebook-Freunden zu
> tun hat.
Bild: Auch auf dem Schulhof in der Ostdeutschen Platte schlugen die Nazis der 9…
Facebook behauptet, dass ich mit lauter Leuten befreundet bin, die bloß
sich [1][selber, Wagenknecht oder auch] gleich die Hamas promoten. Es ist
die langweiligste Zombieapokalypse der Welt. Warum ich den verwaisten
Account nicht lösche? Ich rede mir ein, um alle Jubeljahre nachschauen zu
können, ob nicht jemand aus der Schulzeit versucht, Kontakt aufzunehmen.
Eine Einladung zum Klassentreffen kommt derweil per Mail. Also auf nach
Rostock, 30 Jahre danach.
Wir treffen uns nicht zwischen den Hochhäusern, wo wir zur Schule gegangen
sind, sondern auf einem Restaurantschiff im Stadthafen. Alle sind
außerordentlich liebenswürdig und erklären sich geduldig gegenseitig, wer
sie sind. Ob noch ganz frisch oder nahezu untot: Fast alle sind gekommen.
Von tatsächlich Verstorbenen mal abgesehen. Prost Nils! Jelly Baby ist
leider ebenfalls nicht da.
So einen wie Jelly Baby kennen Sie bestimmt auch. Auf den ersten Blick
einer von den coolen Lehrern. Auf den zweiten Blick nur ein
selbstverliebter Hallodri. Aber wer schaut schon zweimal hin, mit zarten 16
Jahren. Und so merkte man (also ich) erst spät, dass Jelly Baby sich
einfach nur gern von Schutzbefohlenen anhimmeln ließ (nein, nicht was Sie
denken, pfui! Aber auf ’ne ganz eigene Art auch recht jämmerlich). Und dem
wollte ich doch einmal danken für eine wichtige Lektion in meinem Leben.
## Baseballschlägerjahre
Es war ja keine schöne Zeit, Anfang der 90er Jahre in der ostdeutschen
Platte. Man hat davon gehört, nicht wahr? [2][Baseballschlägerjahre,
pipapo]. Die Angriffe der Faschos auf Jugendliche, die ihnen nicht in den
Kram passten, wurden damals auch von Lehrer*innen gern als „normale“
Schulhofkabbelei abgetan. Wie überhaupt die Gewalterfahrung einer ganzen
Generation lange Zeit übergangen wurde. Wir sehen, nichts wurde je auf
Facebook oder Twitter erfunden. Nicht einmal Gaslighting.
Unbehelligt suchten die Nazibanden sich ihre Opfer aus und schlugen zu. In
den Hinterhöfen, in der S-Bahn oder eben vor der Schule. Mit einer
Ausnahme, jenem Tag nämlich, als Jelly Baby Hofaufsicht hatte, dazwischen
ging und einen seiner Schüler in Sicherheit brachte. Ich weiß nicht, ob er
an dem Tag ein Leben rettete, meinen Glauben an die Kraft der richtigen
Entscheidung aber schon.
In meiner Erinnerung war das schließlich das einzige Mal, dass ein
Erwachsener sich nicht abgewendet, sondern eingegriffen hat. Es sind in
dieser Zeit überhaupt verdammt wenige vermeintliche Respekts- und
Autoritätspersonen ihrer Verantwortung nachgekommen.
Ich frage mich gelegentlich, was geworden wäre, hätte es unter ihnen mehr
Jelly Babys gegeben. Öfter frage ich mich – und das ist die Lektion –, wie
es wohl sein wird, wenn heute vielleicht mehr so sind wie er an jenem Tag.
Von den Facebook-Zombies, die sogar zu träge sind, um auf Tiktok
umzulernen, ist das eventuell ein bisschen viel verlangt. Aber fragen kann
man sie ja trotzdem mal: „Wollt ihr meine Jelly Babys sein?“ Das wäre nach
Jahren der Funkstille dort doch mal ein ganz okayenes Lebenszeichen.
3 Sep 2024
## LINKS
[1] /BSW-und-Ukraine-Krieg/!6025186
[2] /Baseballschlaegerjahre-20/!6030701
## AUTOREN
Daniél Kretschmar
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