| # taz.de -- Nach den Krawallen von Southport: Nichts mehr wie vorher | |
| > Das Massaker und die rechten Krawalle in Großbritannien sind einen Monat | |
| > her. Das Entsetzen ist noch groß, die Solidarität aber auch. | |
| Bild: König Charles vor dem Rathaus von Southport. Am 20. August besuchte er A… | |
| Southport/Liverpool taz | An der Eingangstür seines Krämerladens „Windsor | |
| Mini Mart“ hat Chanaka Balusurja ein riesiges Plakat angebracht. „Danke zu | |
| sagen, ist nicht genug!“ beginnt die Würdigung der Menschen von Southport. | |
| Es folgt eine Erklärung, wie sich der 41-Jährige und seine Frau am 30. Juli | |
| in Sicherheit bringen mussten, [1][als ein rechter Mob seinen Laden | |
| verwüstete]. Doch die Welle der Solidarität, die über sie kam, hatten sie | |
| nicht erwartet, und hat sie regelrecht überwältigt. | |
| Am 29. Juli hatte ein Attentäter in Southport bei einer | |
| Taylor-Swift-Tanzveranstaltung drei Schulmädchen mit einem Messer ermordet. | |
| Nachdem Gerüchte in den sozialen Medien aufgekommen waren, dass der Täter | |
| ein muslimischer Asylsuchender sei, versammelten sich in Southport Dutzende | |
| wütende, rechtsextreme Personen und lebten auf den Straßen und vor der | |
| Moschee ihren rassistischen und islamfeindlichen Zorn aus. Später stellte | |
| sich heraus, das der Täter Brite ist, Sohn christlicher ruandischer Eltern, | |
| im walisischen Cardiff geboren und aufgewachsen. | |
| Als sich [2][die rasch herbeigerufene Polizei schützend um die Moschee] | |
| stellte, wurde sie selbst zur Zielscheibe. Der Mob rief islamfeindliche | |
| Parolen sowie den rechten Spruch „Wir wollen unser Land zurück“. Dann | |
| flogen Betonblöcke, Ziegelsteine, Bierflaschen und Mülltonnen. 53 | |
| Polizist:innen wurden verletzt. Auf anderen Straßen Englands und | |
| Belfasts in Nordirland wiederholten sich sechs Tage lang ähnliche Krawalle. | |
| Pech für Chanaka Balusurja, dass sein Laden gerade mal zwei Minuten Fußweg | |
| von der Moschee entfernt liegt. Dass Balusurja Buddhist aus Sri Lanka ist | |
| und seine Frau Katholikin, spielte dabei keine Rolle. „Sie räumten den | |
| Laden aus und stahlen vor allem Alkohol und Zigaretten“, erzählt er. Die | |
| Getränke waren fürs Trinkgelage, die leeren Flaschen weitere Wurfgeschosse. | |
| Als alles vorbei war, stand Balusurja vor dem Ruin. Doch Bewohner:innen | |
| von Southport starteten sofort eine Crowdfunding-Aktion, viele sahen | |
| persönlich vorbei. Es kamen mehrere Tausend Pfund zusammen und der Laden | |
| wurde wieder hergerichtet. „Es war ein moralischer Wiederaufbau, der das | |
| Trauma langsam heilen lässt“, sagt Balusurja. Als König Charles vergangene | |
| Woche Southport besuchte, gehörten Balusurja und seine Frau zu den | |
| Geladenen. Neben den traumatisierten Überlebenden der Messerattacke sowie | |
| ihren Familienangehörigen waren auch betroffene Polizeibeamte:innen | |
| mit dabei, Mitglieder der Rettungsdienste, der Imam der Stadt und | |
| freiwillige Helfer, die nach den Ausschreitungen die Straßen aufräumten und | |
| Zerstörtes reparierten. | |
| Während Balusurja redet, blickt auf einem Regal über seinem Kopf eine | |
| kleine Buddha-Statue gemeinsam mit Jesus-Figuren hinter einer LED-Sonne in | |
| den Laden. „Der kleine Schrein blieb während des Angriffs unversehrt“, sagt | |
| Balusurja. Obwohl er ruhig spricht, ist ihm das Trauma der letzten Wochen | |
| anzumerken. | |
| [3][Das Massaker von Southport ist einen Monat her], doch längst nicht | |
| verarbeitet. In der Hart Street, wo am 29. Juli alles begann, ist der | |
| Eingang zum Tanzstudio immer noch abgesperrt und polizeilich bewacht. Die | |
| Straße ist ein Durcheinander aus Wohnhäusern und kleinen Unternehmen und | |
| Geschäften. Einige der Ladenbesitzer:innen wollen nicht mehr über die | |
| Ereignisse sprechen, zu oft wurden sie schon gefragt. Als sich das Tor zum | |
| Hof mit dem Tanzstudio öffnet, fährt ein Einsatzwagen der Kriminaltechnik | |
| heraus. Im Hof sind blaue Zelte zu erkennen. | |
| Auf der anderen Straßenseite haben Menschen Blumen abgelegt, Karten, | |
| Luftballons. Weitere liegen ein paar Häuser weiter auf einem Parkplatz | |
| sowie vor dem Rathaus in der Stadtmitte. In der ganzen Stadt sind rosa | |
| Schleifchen zu sehen, Symbole des Mitgefühls. An Straßenmasten haben | |
| Seelsorger ihre Adressen ausgehängt. Eine Frau, die gerade die Blumen | |
| betrachtet, sagt, sie sei heute das erste Mal hier. „Davor habe ich es | |
| mental einfach nicht fertiggebracht.“ | |
| An eine Mauer gelehnt steht eine Tafel mit einer Botschaft: „Wir sind alle | |
| schockiert mit gebrochenem Herzen. Unsere Gedanken und Gebete sind an die | |
| Kinder und ihre Familien gerichtet, die von den schrecklichen Ereignissen | |
| vom Montag getroffen wurden“, schreibt Sheikh Ibrahim Hussein, der Imam der | |
| Moschee von Southport. Seine Hoffnung: „Der Hass, Vorurteile und Böses | |
| dürfen nicht über Güte, Mitgefühl und Menschlichkeit siegen. Als Teil der | |
| Gemeinschaft fühlen und teilen wir den Schmerz. Mögen die Kinder ihren | |
| rechtmäßigen Platz im Himmel erhalten.“ | |
| Unmittelbar nach der Messerattacke aufgestellt, hat diese Botschaft die | |
| Moschee nicht [4][vor Angriffen der rechtsextremen Meute bewahrt]. Vor der | |
| Moschee steht Wachpersonal, das es vor dem 29. Juli noch nicht gab. Ein | |
| Überwachungssystem mit Kameras wurde gerade eingebaut, alle Fenster des | |
| einstöckigen Backsteinbaus haben nun Metallgitter. Selbst die | |
| Umfassungsmauer wurde vom Mob zerstört, doch danach von Freiwilligen | |
| wiederhergestellt. Auf einem Tisch im Treppenhaus liegen neben Kärtchen der | |
| „Southport Freunde von Palästina“ Briefe der Anteilnahme und des | |
| Mitgefühls. „Wir alle haben mehr gemeinsam“, schreibt etwa „Paula mit | |
| Familie“. | |
| „Das sind nur einige der vielen Karten und Briefe, die wir erhielten“, sagt | |
| Imam Hussein. Sie seien aus der ganzen Welt gekommen, auch in Jerusalem | |
| habe man für seine Gemeinde gebetet, christliche und jüdische | |
| Glaubensvertreter hätten ihn besucht. Der alte Imam mit langem Kinnbart | |
| sitzt in einem goldbraunen Kaftan mit Stickereien und weißem Hemd in der | |
| Mitte des Gebetsraumes im ersten Stock auf einem von zwei Stühlen. Obwohl | |
| er gerade ein einstündiges Interview mit dem Nachrichtensender Al Jazeera | |
| hinter sich hat, will er mit der taz sprechen. | |
| Hussein beginnt mit dem Besuch von König Charles. Der habe sich nach dem | |
| Wohl seiner Gemeinde erkundigt. Gutes sei aus dem Bösen gewachsen, sagt der | |
| Imam dann und erzählt vom 30. Juli: Wie die ganze Moschee bebte, als die | |
| Meute zuschlug. Wie er und acht andere, die sich in der Moschee | |
| verbarrikadiert hatten, sich nicht trauten, sich einem Fenster zu nähern, | |
| um nicht mit ihren Schatten die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Wir | |
| hatten große Angst und fürchteten die ganze Zeit, dass das Gebäude in | |
| Flammen aufgehen könnte.“ | |
| ## „Es geht immer auf die Minderheiten“ | |
| Noch seien die Dinge nicht wie vorher. Viele Gläubige würden sich nicht | |
| wieder in die Moschee trauen. „Es geht immer auf die Minderheiten“, glaubt | |
| der Imam. „Sie suchen Orte, auf die sie die Schuld etwa für die sozialen | |
| Rückstände mit ihren Vorurteilen schieben können.“ | |
| Imam Hussein wünscht sich stärkere Gesetzte gegen die Verbreitung von Hass | |
| in den sozialen Medien. Außerdem sei es wichtig zu verstehen, dass ein | |
| Einzeltäter, egal welchen Hintergrund er habe, zu keinem Urteil über eine | |
| ganze Gemeinschaft führen könne. Dass das Justizsystem schnell gegen die | |
| Randalierer vorgegangen sei, lobt er. Politiker sollten vorsichtiger in | |
| ihrer Wortwahl sein und nennt dabei insbesondere die rechtspopulistische | |
| Partei Reform UK von Nigel Farage. | |
| Auch in der Fußgängerzone von Southport hängen überall rosa Schleifchen, | |
| erzählt der 17-jährige Harry Melvis, der gerade mit seiner Arbeit in einem | |
| Schreibwarenladen fertig ist. Er erzählt, dass vor der Moschee nicht nur | |
| Rechtsextremisten randaliert haben, sondern auch Jugendliche in seinem | |
| Alter, die er persönlich kenne. Sie hätten aus Begeisterung mitgemacht, | |
| dass in Southport endlich mal was los sei, erläutert er. „Southport ist | |
| eine Stadt, die übersehen wird, mit einer Innenstadt, wo Läden nur noch | |
| dichtmachen und einem hohen Bevölkerungsanteil im Rentenalter, nicht | |
| zuletzt wegen der vielen Altersheime hier.“ Für junge Menschen sei die | |
| Stadt langweilig. Er selber fahre öfters ins zwei Stunden entfernte | |
| Manchester. Er war während der Krawalle gerade in Griechenland im Urlaub. | |
| „Ich bin schon der Meinung, dass die Einwanderungszahlen zu hoch sind und | |
| den sozialen Zusammenhalt und die Assimilierung stören“, sagt Harry Melvis | |
| dann. Er ist damit nicht allein. In einer YouGov-Umfrage, die nach den | |
| Krawallen am 7. und 8. August durchgeführt wurde, stimmten 93 Prozent aller | |
| Befragten der Aussage zu, dass die Regierung mehr gegen das hohe Niveau der | |
| Einwanderung tun sollte. Doch gerade in Southport sollte das kein Problem | |
| sein: Bei der letzten Volkszählung des Jahres 2021 definierten sich in der | |
| Regionalbehörde, zu der Southport gehört, 95,8 Prozent der | |
| Bewohner:innen als weiß. Die muslimische Bevölkerung in Southport kam | |
| nicht mal auf ein Prozent. | |
| Die Randalierer von Southport werden schnell zur Rechenschaft gezogen. Über | |
| 22 Personen sind bereits verurteilt worden. Die Verhandlungen werden im | |
| Schnellverfahren in einem Betongebäude im dreißig Kilometer entfernten | |
| Liverpool geführt. Nur wenige Menschen sind im Gerichtssaal anwesend. Der | |
| Staatsanwalt verliest eine Anklage nach der anderen, je nach Mandant | |
| wechseln die Pflichtverteidiger. Die Anwälte und Richter tragen alle die | |
| traditionellen weißen Perücken aus Pferdehaaren. Eine Journalistin vom | |
| Liverpool Echo beobachtet jeden Tag die Prozesse. | |
| Hinter einer Glaswand erscheint ein Angeklagter, der 41-Jahre alte Andrew | |
| Jackson mit schmalem Gesicht und Stoppelhaaren. Er stammt aus einer | |
| Backsteinsiedlung in St. Helens, einem ehemaligen Bergbauort, dreißig | |
| Kilometer südlich von Southport. Der Staatsanwalt zählt auf: Beteiligung an | |
| einem gewaltsamen Aufstand, Einschüchterung der Bevölkerung, rassistische | |
| und islamophobe Beschimpfungen, Verletzung von über 50 Polizeibeamte:innen, | |
| Schäden an Gebäuden und Besitz in Höhe von mehr als 100.000 Pfund. Wenn | |
| auch Jackson nicht der Anführer gewesen sei, war er doch Teil all dessen | |
| gewesen. | |
| Der Staatsanwalt präsentiert Videos, auf denen Jackson in kurzer Hose und | |
| grauem Hoodie aus einer Gruppe von etwa zwölf Leuten insgesamt sechs | |
| Flaschen auf die Polizisten wirft, dann filmt er selbst Szenen und wirft | |
| nochmal acht Flaschen, die er aus einer roten Tonne geholt hat. Die letzten | |
| beiden Flaschen zielt er genauer. Weiter erfährt die Öffentlichkeit, dass | |
| Jackson seit 1999 bereits 26 Verurteilungen für 46 Vergehen erhalten hat, | |
| die meisten davon Drogendelikte, nur einmal vor 18 Jahren mit Bezug auf | |
| eine Waffe. Der Verteidigung bleibt nur darauf hinzuweisen, dass Jackson | |
| geständig sei, sich schuldig bekannt habe und dass er mutmaßlich niemanden | |
| direkt verletzt habe. | |
| Nach kurzer Beratung ergreift Richter Neil Flewitt das Wort. Jackson sei | |
| Teil eines gewalttätigen rassistisch motivierten und religionsfeindlichen | |
| Mobs gewesen und habe Flaschen und andere Gegenstände geworfen. Das Urteil: | |
| Zwei Jahre und acht Monate Haft. Mindestens die Hälfte davon wird Jackson | |
| absitzen müssen. | |
| Ähnlich läuft es beim 31-Jahre alten Joshua Jones aus Saltney in Chester an | |
| der walisischen Grenze. Der kräftige Mann im olivgrünen T-Shirt hat | |
| Tätowierungen am Schädel und an den Armen. Zwei Frauen in seinem Alter sind | |
| zur Beobachtung mit in den Saal gekommen, sie scheinen Jones zu kennen. Er | |
| zwinkert ihnen zu. Auch hier zeigt der Staatsanwalt ein Video, auf der man | |
| den Angeklagten vermummt als Teil der wütenden Menge sieht. Dass er | |
| Gegenstände wirft, ist nicht so eindeutig zu erkennen. Der Verteidiger | |
| verweist auf angebliche Lernstörungen seines Mandanten. Auch habe er sich | |
| nach seiner Festnahme geschämt. Er sei eigentlich nach Southport gekommen, | |
| um der Trauerandacht beizuwohnen, habe sich jedoch dann dem Mob | |
| angeschlossen. Jones ist 26 Mal vorbestraft, darunter für Hooliganismus im | |
| Fußball und Angriffe auf Rettungsdienste und Polizei. Bei seiner Festnahme | |
| fand die Polizei ein nicht gemeldetes Samuraischwert in seinem Haus. | |
| Der Richter zweifelt daran, dass es Jones wirklich leid getan habe, weil er | |
| Gleiches schon bei vorherigen Vergehen behauptete. Statt nach Spanien zu | |
| gehen, um dort als Fitnesslehrer zu arbeiten, wie er beim letzten Mal | |
| angekündigt hatte, wurde er Teil des Mobs in Southport. Jones bekommt drei | |
| Jahre und zwei Monate Haft. Bei der Urteilsverkündung schluchzt eine der | |
| beiden Frauen laut auf, während Jones mit gesenkten Kopf abgeführt wird. | |
| Viele der über 1.000 Anklagten landesweit haben ähnliche Vorgeschichten wie | |
| Jones und Jackson. Sie sind britisch-weiße Männer aus ehemaligen | |
| Industrieorten mit geringer Ausbildung und langem Vorstrafenregister. Ihre | |
| ungewöhnlich rasche Abfertigung vor Gericht ist Teil der Strategie der | |
| Labour-Regierung, hart gegen die Krawalle vorzugehen. Das stellt ein | |
| unerwartetes Problem für die überfüllten Strafanstalten des Landes dar, die | |
| kaum Platz haben. Ab September können deswegen nicht gewalttätige | |
| Straftäter:innen schon nach 40 Prozent ihrer Haft auf Bewährung | |
| freikommen, und andererseits können neu zu Freiheitsstrafen verurteilte | |
| Straftäterinnen mit Sondergenehmigung in Polizeizellen eingebuchtet werden, | |
| bis ein Gefängnisplatz frei wird. | |
| Am vergangenen Freitag wurde in Southport das letzte der drei ermordeten | |
| Mädchen beerdigt. Überall in Southport hört man von Spendenaufrufen. Im | |
| Stadttheater liefen tagelang Liederabende, in der Stadtmitte vereinten sich | |
| Geschäfte und Organisationen zu einem Familientag. Am 31. August sollen | |
| Spenden bei einem Fußballspiel zwischen dem Amateurvereinen Southport FC | |
| und Buxton FC gesammelt werden. Auf der Facebook Seite „Stand Up For | |
| Southport“ zeigen Künstler:innen neue Werke. Die Erinnerung gilt den | |
| ermordeten Kindern: die 6-jährige Bebe King, die 7-jährige Elsie Dot | |
| Stancombe, die 9-jährige Dasilva Aguilar. | |
| Das Leben in Southport ist nicht wie vorher, wenn es überhaupt einmal | |
| wieder so sein wird. „Wir müssen uns umeinander kümmern“, erklärt die | |
| 17-jährige Isabelle Webster beim Einkaufen in der Stadt. Southport sei | |
| nicht immun vor Hass, der von außen kommt, das sei jetzt klar. Aber dass so | |
| viele Menschen sich nach den Unruhen halfen – das mache einen Unterschied. | |
| Wie es Chanaka Balusurja auf dem Schild vor seinem Laden ausdrückt: „Ihr | |
| habt uns im düstersten Moment solche unermessliche Güte und Großzügigkeit | |
| bewiesen, und wir können es einfach nicht in Worte fassen, was uns das | |
| bedeutet.“ | |
| 29 Aug 2024 | |
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