# taz.de -- Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg: Grusel mit Groove | |
> Die Festival-Eröffnung bot Düsteres und Meditatives. Noch zwei Wochen | |
> gibt es Tanz, Theater, Performance, bildender Kunst – und natürlich | |
> Musik. | |
Bild: Diesmal war er sogar gut gelaunt: Taylor Kirk von der kanadischen Band Ti… | |
Irgendwann zitiert [1][Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda] Bruce | |
Springsteen. Der US-amerikanische Sänger, von dem Brosda erklärter Fan | |
ist, mache eine Gleichung auf: „Eins plus eins ist nicht immer zwei.“ | |
Rockkonzerte seien unerklärlich, so Brosda. Die Menschen kämen nicht | |
dorthin, um etwas zu lernen. Sondern um etwas zu fühlen, das bereits tief | |
in ihren Eingeweiden steckt. | |
Die Macht des Vertrauten und die Kraft der Gefühle, das passt gut zur | |
Eröffnung des [2][Sommerfestivals von Kampnagel], bei der Brosda am | |
vergangenen Mittwoch sprach. Kurz und knackig, über die „verletzte | |
Gesellschaft“ und die Kunst, die Raum brauche. Im Foyer wird derweil Sekt | |
gereicht, draußen probieren die ersten die Nebelmaschinen-befeuerte | |
Rauch-Kanone aus. | |
Schön, wieder dort zu sein, beim alljährlichen Festival. Noch bis zum 25. | |
August präsentiert es Veranstaltungen aus den Bereichen Tanz, Theater, | |
Performance, bildender Kunst – und natürlich Musik. Ein Höhepunkt ist der | |
Auftritt der Post-Punk-Veteranen A Certain Ratio (18. August), krönender | |
Abschluss dann der Bob-Dylan-Tribut der Sängerin Cat Power in der | |
Elbphilharmonie (24. August). | |
Hinten im Festivalgarten eröffnen zwei Musiker, die von großen | |
Stadiongesten kaum weiter entfernt sein könnten, das Konzertprogramm auf | |
der Waldbühne. Auch sie setzen auf die Macht des Bekannten und die Kraft | |
der Gefühle: Der palästinensische Oud-Spieler Bakr Khleifi greift im Duo | |
mit dem iranischen Geiger Misagh Joolaee auf das Vokabular klassischer | |
arabischer und persischer Musik zurück – vor allem aber improvisieren die | |
beiden. | |
## Stimmen zu misslichen Zuständen der Welt | |
Hypnotisch und meditativ sind ihre ausladenden Stücke, immer wieder | |
schleichen sich vertraute Muster ein. Eins plus eins ist bei Khleifi und | |
Joolaee manchmal drei, manchmal sogar vier oder fünf. Jazz könnte das sein; | |
auch westliche Folk-Muster sind zu erahnen. Kein Wunder, spielen beide doch | |
in mehreren international besetzten Ensembles. | |
„Wallah Krise!“ ist das kostenlose Programm auf der Waldbühne übertitelt, | |
das diasporische Stimmen zu den misslichen Zuständen der Welt präsentieren | |
möchte. Wie beruhigend, dass manchmal schlicht die sich umgarnenden Stimmen | |
zweier Instrumente reichen. | |
Drinnen in der Konzerthalle KMH ist es ganz dunkel. Die kanadische Band | |
Timber Timbre tritt auf; deren Sänger Taylor Kirk kann sehr schlecht | |
gelaunt sein. Das letzte Mal, als man die Band sah, brach er fast das | |
Konzert ab, weil ein paar Besuchende sich nicht an das Fotografierverbot | |
gehalten hatten. Miese Stimmung und Handyverbot gibt es bei der Eröffnung | |
am Mittwoch jedoch nicht. Sondern ein Lächeln und eine gelupfte Käppi: | |
„It’s nice to see you again.“ | |
Es ist voll in der Halle, die Luft stickig, die Bühne in blutrotes Licht | |
getaucht. Timber Timbre führen zu viert ihren apokalyptischen Folk-Sound | |
auf, in dem New Orleans Soul, die Grandezza der Beach Boys und die | |
Schwermut Leonard Cohens stecken. Eine unvergleichliche Musik, spooky und | |
groovy gleichzeitig. | |
## Ein weißer Typ, der Blues singt | |
„Do you wanna see a dead body, ask the community“, singt Kirk. Ein | |
grotesk-fröhliches Jahrmarktklavier setzt ein, dann endet der Song in | |
Kakophonie. Schon bei seinem aktuellen Album, erschienen im ersten Jahr der | |
Trump-Präsidentschaft, war Kirk es leid, über Politik zu reden. Dabei bot | |
es sich eigentlich an: Die Platte war klimakrisenhaft „Sincerely, Future | |
Pollution“ betitelt. Sieben Jahre später ist die Welt kein bisschen besser, | |
aber Timber Timbre sind auf dem Zenit ihrer Kunst. | |
Kirk muss nichts erklären, nichts kommentieren, die Songs sprechen für | |
sich. Der gespenstische Gesang klingt trotz Hall klar und nüchtern, die | |
Orgel ist stets lauter als die Gitarre, die Drums stampfen düster. Auch | |
Timber Timbre wissen um die Kraft des Vertrauten und um die Gefühle in den | |
Eingeweiden. Ein Schlagzeug-Pattern klingt nach „Be My Baby“ von den | |
Ronettes, ein Intro hat Reminiszenzen an Stevie Wonders Siebziger-Funk, an | |
anderer Stelle glaubt man gar, ein Classic-Rock-Riff von ZZ Top zu hören. | |
„Es gibt nichts Schlimmeres als einen weißen Typen, der Blues singt“, hat | |
Taylor Kirk einmal gesagt. Er singt ihn trotzdem, jedenfalls etwas, das an | |
Blues erinnert. Die gesamte Pop-Geschichte steckt in diesen Songs, aber sie | |
wird verfremdet, geknechtet, zerdehnt – und genau das macht sie so | |
brillant. | |
Als Zugabe spielen Timber Timbre das erhabene, Gänsehaut erzeugende „Run | |
From Me“, mit dem Kirk sich schon vor zehn Jahren für einen Job als | |
James-Bond-Theme-Song-Komponist zu bewerben schien. Das Publikum schwitzt, | |
aber es wiegt sich im Takt. Ein dunkler Walzer, bei blutrotem Licht. | |
13 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Jan Paersch | |
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