# taz.de -- Psychiater über Krieg im Libanon: „Die erste Reaktion ist instin… | |
> Über Beirut donnern israelische Kampfflugzeuge hinweg, die Menschen | |
> sorgen sich vor einem den ganzen Libanon betreffenden Krieg. Was macht | |
> das mit ihnen? | |
Bild: Das Leben geht für viele Libanes*innen trotz des Krieges recht normal we… | |
Beirut taz | Etwa drei Wochen ist es nun her, dass Israel den | |
Hisbollah-Kommandeur [1][Fuad Shukr in Südbeirut tötete], wohl als | |
Vergeltung für einen der Hisbollah zugeschriebenen Luftangriff auf die | |
Golanhöhen, [2][bei dem zwölf drusische Kinder starben]. Außerdem wurde | |
Ende Juli Hamas-Politbürochef Ismael Hanijeh in der iranischen Hauptstadt | |
Teheran getötet, Israel soll dafür verantwortlich sein. Der Iran droht für | |
beide Angriffe mit Vergeltung, seitdem hält wohl die gesamte Region den | |
Atem an. | |
taz: Herr Sassine, über der libanesischen Hauptstadt Beirut sind immer | |
wieder die Kampfflugzeuge des israelischen Militärs zu hören. Und die | |
Unsicherheit, was als nächstes kommen könnte, zehrt an den Leuten. Sie | |
betreuen als Psychiater Menschen, denen diese Bedrohungslage zusetzt. | |
Worüber klagen ihre Patient*innen? | |
Elio Sassine: Instabilität und eine latente Bedrohungslage existieren schon | |
lange im Libanon. [3][Seit der Explosion am Hafen in Beirut vor vier | |
Jahren] haben wir hier eine Epidemie von Angststörungen und Depressionen. | |
Außerdem sind posttraumatische Belastungsstörungen – kurz PTBS genannt – | |
weit verbreitet, insbesondere unter den Opfern der Explosion. Das jüngst | |
öfter hörbare Donnern der israelischen Flugzeuge, die im Überschall über | |
Beirut fliegen, hat bei vielen Erinnerungen an die Explosion geweckt. | |
Angstzustände, Panikattacken und Schlafstörungen haben dadurch noch | |
zugenommen. | |
taz: Wenn die Flugzeuge die Schallmauer durchbrechen, hört sich das wie | |
eine Explosion an. Israel wird deshalb vorgeworfen, im Libanon [4][auch | |
einen psychologischen Krieg] zu führen. | |
Sassine: Ob es eine Explosion ist oder sich erst mal nur so anhört – die | |
erste Reaktion des Menschen ist instinktiv. Bis man versteht, dass es nur | |
ein Überschallknall ist, hat man Angst, vielleicht sogar Todesangst – und | |
damit ist der Schaden schon angerichtet. Es ist schwierig, diese Geräusche | |
sofort zu rationalisieren. Gerade die Menschen, die bereits viel | |
durchgemacht haben – etwa die Explosion am Beiruter Hafen –, erleben | |
unmittelbar eine Wiederholung des Vergangenen. | |
taz: Welche anderen Taktiken der psychologischen Kriegsführung fährt Israel | |
gegen den Libanon auf? | |
Sassine: Die Drohung eines totalen Krieg, bei dem es nicht mehr nur um | |
gezielte Angriffe geht, wird über Medien, Whatsapp sowie die sozialen | |
Netzwerke verbreitet. Manche Menschen haben das Land verlassen, andere | |
ihren Urlaub im Libanon abgebrochen. Denn es kursieren ständig Gerüchte: | |
Diese Nacht könnte der Krieg ausbrechen. Diese permanenten Gerüchte und | |
Drohungen sind psychologisch noch schädlicher als die Überschallknalle. | |
taz: Was macht sie so schwerwiegend? | |
Sassine: Sie lassen uns in ständiger Bedrohung und Unsicherheit leben, in | |
der ständigen Erwartung, dass bald etwas passieren wird. Das geht nun schon | |
seit Wochen so. Als der [5][Krieg in Gaza vor zehn Monaten] begann, | |
tauchten die ersten Drohungen israelischer Politiker in den Medien auf: Der | |
Libanon solle bombardiert und eingenommen, Beirut in Schutt und Asche | |
gelegt werden. Wir wissen, wie die israelische Kriegsführung aussehen kann. | |
Wir sehen es in Gaza. | |
taz: Die Menschen haben also das Gefühl, permanent wachsam sein zu müssen? | |
Sassine: Ja, das nennt man Hypervigilanz und es kann ein Symptom für eine | |
posttraumatische Belastungsstörung sein. Aber aufgrund der derzeitigen | |
Situation im Libanon sind wir nun wohl alle übermäßig wachsam. Jedes laute | |
Geräusch, selbst eine zuschlagende Tür, lässt uns aufschrecken und in eine | |
Kampf- oder Fluchtreaktion verfallen. | |
taz: Wie kann diese Reaktion aussehen? | |
Sassine: Wir sehen, was in Gaza Schreckliches passiert: Menschen, die unter | |
Trümmern sterben, Kinder, die enthauptet werden. Das ist sehr belastend, | |
vor allem im Libanon – denn wir wissen, dass wir die nächsten Opfer sein | |
könnten. Der Panikmodus setzt ein – dann fühlt es sich so an, als würde | |
gleich etwas passieren. Diese instinktive Kampf-oder-Flucht-Reaktion des | |
Menschen sollte nur Sekunden dauern, ist hier aber Dauerzustand. | |
Zu den Symptomen der Angstzustände, PTBS und Depressionen, unter denen | |
viele hier leiden, gehören unter anderem unaufhaltsam kreisende Gedanken, | |
Schlaflosigkeit, Gewichtsverlust und Appetitlosigkeit. Depressionen können | |
zu anhaltender Verzweiflung, Pessimismus und einem Verlust des Interesses | |
am Leben führen. Mit PTBS geht weiter das Vermeiden von bestimmten | |
Situationen einher, und die Betroffenen sind oft reizbar. | |
taz: Dem Krieg kann man auch im normalen Alltag kaum entkommen: Das | |
GPS-Signal ist gestört, oft wird als Standort, etwa auf Google Maps, der | |
Flughafen von Beirut angezeigt – obwohl man sich ganz woanders aufhält. Auf | |
[6][Dating-Apps] werden einem sogar Profile aus Israel vorgeschlagen, denn | |
auch dort wird im Norden des Landes das GPS gestört. Ist das ebenfalls ein | |
Teil der psychologischen Kriegsführung? | |
Sassine: Das sind keine Lappalien: Es zeigt, dass Israel in der Lage ist, | |
das tägliche Leben der Menschen beeinflussen zu können. Das ist | |
beängstigend. | |
taz: Trotz aller Sorgen posten viele Libanes*innen auch Fotos vom | |
Strand, von Hochzeiten und wilden Partys – ein scheinbar fröhlicher | |
Sommer. | |
Sassine: Das ist kein Paradox. Ich bin 58 Jahre alt und gerade in meiner | |
Generation haben wir von Geburt an Kriege erlebt. Ohne | |
Bewältigungsmechanismen wären wir vor Verzweiflung wohl gestorben. Deshalb | |
genießt man in diesem Land die Momente, in denen man nicht direkt bedroht | |
ist. | |
[7][Es ist gut, wenn die Leute ihre Sorgen wegtanzen]. Aber wenn in | |
bestimmten Regionen des Landes, vor allem im Süden, Menschen sterben oder | |
vertrieben werden, dann sollte man sich aus Gründen der Pietät ein bisschen | |
zurückhalten. Das ist meine persönliche Ansicht. | |
taz: Welche Bewältigungsmechanismen gibt es sonst noch? | |
Sassine: Es ist wichtig, vorzubeugen. Dafür gibt es gute Strategien: nicht | |
zu viele Nachrichten konsumieren, vor allem nicht aus unzuverlässigen | |
Quellen, denn die ständigen Updates können überwältigend sein. Über Sorgen | |
sprechen. Und wenn die persönliche Situation ernster wird, sollte man sich | |
professionelle Hilfe holen. Bei Schlafproblemen können Ärzt*innen außerdem | |
eine geringe Dosis eines passenden Medikaments verschreiben. Auch ein | |
routinierter Tagesablauf hilft, einschließlich Sport und Arbeit. Und gerade | |
Kinder sollten nicht mit beunruhigenden Nachrichten konfrontiert werden. | |
Wenn die Kleinen Angst bekommen, sollten sie beruhigt werden und ihnen die | |
Situation in aller Ruhe erklärt werden. | |
taz: Es heißt oft, Libanes*innen seien sehr resilient, und dass der | |
Libanon wie ein Phönix aus der Asche immer wieder auferstehe. | |
Sassine: Resilienz ist ein vager Begriff. Es stimmt zwar, dass die | |
Libanes*innen viel ertragen haben und dadurch eine gewisse | |
Widerstandsfähigkeit aufgebaut haben. Doch die den Libanes*innen | |
nachgesagte Resilienz kann auch Ausdruck der Unfähigkeit sein, | |
Veränderungen durchzusetzen. Die Menschen haben immer wieder versucht, das | |
politische System im Libanon zu verändern, vor allem während der großen | |
Proteste im Jahr 2019. Aber das zutiefst korrupte politische System machte | |
es fast unmöglich, echte Veränderungen zu erreichen. | |
Was Resilienz genannt wird, ist eher eine Anpassung an die bestehende | |
Situation, wenn ein Wandel unerreichbar scheint. Kurzfristig schützt das | |
vielleicht vor Ängsten, aber es behindert auch die Fähigkeit, aktiv einen | |
dauerhaften Wandel in Politik und Gesellschaft zu gestalten. Sich für | |
Veränderung einzusetzen, kann die Psyche positiv beeinflussen. | |
taz: Einige versuchen, den Libanon zu verlassen – doch es gibt auch einen | |
Gegentrend: Viele in der [8][Diaspora] lebende Libanes*innen möchten | |
gerade jetzt in den Libanon zurückzukehren. Warum? | |
Sassine: Ich habe selbst Freunde, denen es so geht. Und auch mein Sohn lebt | |
in der Schweiz und ist vor einigen Tagen im Libanon angekommen. Das liegt | |
an dem starken Bedürfnis, solidarisch zu sein, in schwierigen Zeiten | |
zusammenzustehen – ein Charakterzug, der in der libanesischen Gemeinschaft | |
tief verwurzelt ist. Beim letzten Krieg zwischen Israel und der Hisbollah | |
im Jahr 2006 konnte man sehen: Wenn es ernst wird, steht das Land zusammen, | |
die Menschen zeigen viel Solidarität. Das treibt viele an, zurückzukommen | |
und ihr Land zu unterstützen – trotz der Risiken, die sie damit eingehen. | |
Ich habe selbst im Ausland studiert, als der Bürgerkrieg im Libanon (von | |
1975 bis 1990, Anm. d. Red.) tobte – und habe mich sehr unwohl dabei | |
gefühlt, außerhalb meines Landes zu sein. Es ist oft besser, vor Ort zu | |
sein, dort aktiv helfen zu können, als sich aus der Ferne ohnmächtig und | |
besorgt zu fühlen. | |
19 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Julia Neumann | |
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