| # taz.de -- Raketenangriff auf den Golanhöhen: Zwischen den zerstörten Welten | |
| > Fassungslosigkeit nahe Syrien und dem Libanon: Im drusisch geprägten | |
| > Madschdal Schams versuchen Menschen nach dem Angriff ihren Alltag zu | |
| > bewältigen. | |
| Auf einer wackligen Leiter klettern drei Männer auf ein Flachdach. Sie | |
| suchen nach bis dort oben versprengten Leichenteilen – Finger, Gewebe-, | |
| Knochenreste. Zwei von ihnen tragen vom Shirt bis zu den Schuhen Schwarz – | |
| Trauerkleidung –, wie so viele an diesem Tag in der [1][drusisch] | |
| besiedelten Kleinstadt Madschdal Schams, auf den von Israel annektierten | |
| Golanhöhen. Der dritte hat eine Weste von [2][Zaka] an, einem Such- und | |
| Rettungsdienst in Israel. Seine langen Schläfenlocken, wie sie viele | |
| ultraorthodoxe Juden tragen, sind unter der brennenden Sonne feucht | |
| geworden vom Schweiß. In der Hand trägt er einen hellen Plastiksack. Was | |
| die Gruppe findet, kommt hier hinein. | |
| Am vergangenen Samstagabend gegen 18 Uhr schlägt in Madschdal Schams eine | |
| Rakete ein – aller Wahrscheinlichkeit nach abgefeuert von der | |
| Hisbollah-Miliz aus dem nördlichen Nachbarland Libanon. Sie trifft ein | |
| Fußballfeld, gelegen direkt neben einem Spielplatz und einer Sportwiese. | |
| Ein Dutzend Kinder und Jugendliche sterben, die Bilder ihrer durch die | |
| Wucht der Explosion verstümmelten Körper verbreiten sich rasant über | |
| soziale Medien. Zwanzig Menschen werden außerdem teils schwer verletzt. | |
| Als die Rakete am Samstagabend einschlägt, erzählt Safi Safadi, ein junger | |
| Mann aus Madschdal Schams, sei er nur wenige Minuten entfernt eine der | |
| Straßen rund um den Fußballplatz entlangspaziert. Als der Alarm ertönte, | |
| sagt er, ging er einfach weiter. Drei Sekunden habe man hier, um bei | |
| Raketenalarm einen Schutzraum aufzusuchen. Safadi zuckt mit den Schultern. | |
| „Auf Arabisch sagen wir: Was passieren soll, soll passieren.“ Auch für die | |
| Kinder auf dem Fußballplatz, sagt er, sei die Zeit zu knapp gewesen. Direkt | |
| neben dem Sportplatz steht ein kleiner Bombenschutzraum, die Außenwände mit | |
| Kuhlen von der Explosion übersät. Nur wenige Meter trennen die Stelle des | |
| Einschlags von dem Schutzraum, dazwischen verbrannte Räder und Roller. | |
| Kurz nach der betäubend lauten Explosion habe er den Spielplatz erreicht, | |
| erzählt er. Und sieht die toten Körper, „manche ohne Arm, andere ohne | |
| Bein“. Safadi ist ausgebildeter Ersthelfer, er versucht zu retten, wer noch | |
| zu retten ist. Gemeinsam mit anderen Freiwilligen birgt er die Verletzten, | |
| dann die leblosen Körper, sammelt Leichenteile ein, bis in den frühen | |
| Morgen. | |
| Zwei Stunden habe er geschlafen, sagt er, in seinem Auto, obwohl sein | |
| Elternhaus oben am Berg nur wenige Autominuten entfernt liegt. Und auch am | |
| Sonntag ist er wieder am Sportplatz. Gemeinsam mit Freunden und Dutzenden | |
| anderen Freiwilligen sucht er weiter. Denn bis zum Sonntagabend gilt ein | |
| Kind als noch vermisst. Die gefundenen Teile werden einem DNA-Test | |
| unterzogen. In der Nacht zum Montag bestätigt sich dann: Der Junge ist | |
| unter den Toten. Einen Körper, den man beerdigen könnte, scheint es nicht | |
| zu geben. | |
| Die elf bereits identifizierten Kinder werden am Sonntagvormittag beerdigt. | |
| Ihre Überreste werden in einer Prozession durch das Dorf getragen, Tausende | |
| sind gekommen, um sie zu verabschieden. Auf der großen Sportwiese neben dem | |
| Fußballfeld stehen in hohen Stapeln noch die Plastikstühle, die für die | |
| Trauerfeier dort aufgestellt wurden. Zwei Jugendliche beginnen sie | |
| einzusammeln und auf einen Anhänger zu verladen. Nur zwölf Stühle, bedeckt | |
| mit schwarzen Plastikhüllen, neben ihnen Blumenkränze aufgestellt, bleiben | |
| zurück. | |
| Neben der Wiese klettern die drei Männer wieder hinunter vom Dach und | |
| ziehen weiter zum Nachbargebäude, einer Schule. Dort werden sie fündig, | |
| Dutzende eilen auf einmal die Treppen zu dem Flachdach hinauf. „Vielleicht | |
| Leberteile“, sagt der Mann von Zaka, zieht seinen blauen Einmalhandschuh | |
| aus und wirft ihn mit in den Sack. Die meisten der freiwillig Suchenden | |
| tragen keine Handschuhe. Ein Jugendlicher, die Hände schwarz vom Ruß der | |
| Hitze der Detonation, der sich über den Kunstrasen des Platzes gelegt hat, | |
| öffnet die Faust und zeigt seine Handfläche. Darauf liegt etwas, das | |
| aussieht wie ein Knochenstück. Es wandert in den blauen Sack. | |
| In dem Meer aus schwarz gekleideten Männern und Frauen auf dem Sportplatz | |
| stechen ein paar Angehörige des Militärs hervor. Einer von ihnen filmt sich | |
| selbst, während er auf Spanisch von den Geschehnissen der vergangenen Nacht | |
| berichtet. Eine andere Soldatin fotografiert die Trauernden. Sie alle sind | |
| vom Pressedienst des israelischen Militärs. Einer von ihnen sagt: Man sei | |
| hier, um der Welt die Taten der Hisbollah zu zeigen. Die hatte sich | |
| zunächst zu Raketenangriffen auf den Berg Hermon, direkt bei Madschdal | |
| Schams gelegen, bekannt und war später zurückgerudert. Eine israelische | |
| Abwehrrakete des Iron Dome sei verantwortlich für die Explosion. | |
| [3][Das Militär] dementiert und veröffentlicht am Sonntagabend Bilder der | |
| nach der Explosion geborgenen Raketenteile. Es handle sich um eine | |
| Falaq-1-Rakete, so das Militär: gebaut im Iran, eingesetzt von der | |
| Hisbollah. | |
| Auch der Knesset-Abgeordnete Eliyahu Revivo ist am Sonntag nach Madschdal | |
| Schams gekommen, am Rande des Fußballfeldes gibt er Interviews und betont: | |
| Er sehe keine Alternative, um gegen die Hisbollah vorzugehen, außer einen | |
| Krieg. Revivo ist Mitglied der rechtskonservativen Partei Likud von | |
| Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Der kam nach dem Angriff vorzeitig | |
| von seiner USA-Reise zurück und berief am Sonntagabend gleich Israels | |
| Sicherheitskabinett ein, um über einen Gegenschlag auf die Hisbollah im | |
| Libanon zu beraten. Man habe sich auf ein Vorgehen verständigt, erklärte | |
| Netanjahus Büro später. | |
| Die Reaktion des Staates müsse genauso ausfallen, wenn drusische Kinder auf | |
| den Golanhöhen getötet werden, wie wenn es jüdische Kinder in Tel Aviv | |
| wären, sagt Revivo in Madschdal Schams. Und der Staat Israel müsse die | |
| Souveränität über seine Gebiete wiederherstellen. Völkerrechtlich zählen | |
| die Golanhöhen zu eben jenem Staatsgebiet nicht dazu. Anfang der 1980er | |
| Jahre annektierte Israel das Gebiet, das es 1967 von Syrien im Kampf | |
| errang. | |
| Entlang der ganz nah und parallel zur syrischen Grenze verlaufenden, nach | |
| Madschdal Schams führenden Straße, der Route 98, sind die Folgen des Kriegs | |
| um die Golanhöhen bis heute sichtbar: An rostenden Drahtzäunen warnen | |
| Schilder vor Minen und durch die leeren Fensterhöhlen halbzerstörter Häuser | |
| schimmert das Grün der sie umgebenden Bäume. Wo keine Minenfelder liegen, | |
| ist die Straße gesäumt von Kuhweiden, Militärcamps, Trainingsgelände für | |
| Schießübungen und den warmen, ockerfarbenen Steinen der bergigen | |
| Landschaft. | |
| ## Schwarze Fahnen der Trauer | |
| Wer schließlich Madschdal Schams erreicht, wird begrüßt von schwarzen | |
| Fahnen der Trauer: Auf den Kreisverkehren der Stadt, von den | |
| Straßenlaternen wehend und schließlich an dem Metallzaun rund um den | |
| Sportplatz selbst. Die Presseshow des israelischen Militärs störe ihn, | |
| lässt ein junger Mann aus der knapp 12.000-Einwohner-Stadt durchblicken. | |
| Seinen Namen will er nicht nennen. Natürlich komme die Besatzungsmacht | |
| vorbei, wenn sich eine Katastrophe ereigne, sagt er. | |
| Wie etwa 80 Prozent der Drusinnen und Drusen auf den annektierten | |
| Golanhöhen ist er kein israelischer Staatsbürger, obwohl er einer werden | |
| könnte. In seinen Papieren, sagt er, stehe „undefiniert“ – nicht | |
| israelisch, nicht syrisch. Dass die meisten Drusinnen und Drusen der Region | |
| den israelischen Pass nur deshalb verweigerten, weil sie fürchten, von | |
| Syrien des Verrats bezichtigt zu werden, wenn Israel das annektierte Gebiet | |
| eines Tages wieder abgeben müsse, hält er für ein Gerücht. „Man nimmt nic… | |
| die Staatsbürgerschaft eines Landes an, das die eigenen Vorfahren getötet | |
| hat“, erklärt er. | |
| Safi Safadi sagt, er stehe zwischen den Welten. Der 26-Jährige spielt Rugby | |
| in einem lokalen Verein und in der israelischen Nationalmannschaft, erzählt | |
| er. Es sei nicht so, dass Israel für die Drusen auf den Golanhöhen nichts | |
| tue, erklärt er. Doch ein Teil seines Herzens, der bleibe eben syrisch. | |
| Auch weil er Verwandte dort habe, sagt er, etwa in der Stadt Suweida. Bis | |
| zum Beginn des Bürgerkriegs in Syrien im Jahr 2011 war das Verhältnis | |
| zwischen Machthaber Baschar al-Assad und den Drusen gut. | |
| Doch seitdem geht es bergab – und bis heute protestieren die mutigen Drusen | |
| in Suweida gegen Assad. Auch das trage dazu bei, schreiben Analysten, dass | |
| sich das Verhältnis zwischen den Drusen auf den Golanhöhen und dem Staat, | |
| der ihre Heimat annektiert hat, langsam bessert. Er wünsche sich Frieden, | |
| sagt Safadi, „einfach Frieden“. | |
| Die Solidarität reicht bis über die Grenze. Am Sonntag halten die Drusen in | |
| Suweida eine kleine Demonstration ab und beschuldigen die mit dem syrischen | |
| Regime verbündete Hisbollah des „Tötens von Kindern“, schreibt die | |
| [4][Times of Israel.] | |
| Wie der Frieden, den Safadi sich wünscht, erreicht werden soll, wird in | |
| Israel weiter diskutiert. Seit vergangenem Oktober schießt die Hisbollah | |
| beinahe täglich Raketen, Anti-Panzer-Waffen und Drohnen gen Nordisrael und | |
| die Golanhöhen. Einige Israelis sind überzeugt: Nur eine Bodenoffensive im | |
| Libanon, um die Hisbollah von der Grenze zurückdrängen, könne Frieden | |
| schaffen. Andere hoffen weiter auf eine diplomatische Lösung. | |
| 24 Zivilisten sind bei den Angriffen im Norden Israels bisher ums Leben | |
| gekommen, inklusive der in Madschdal Schams getöteten Kinder und | |
| Jugendlichen. Dass es verhältnismäßig wenige sind, liegt auch daran, dass | |
| die Region zu großen Teilen evakuiert ist. Über 80.000 Menschen haben | |
| bereits in anderen Teilen Israels Zuflucht gesucht. | |
| Auch in Nordisrael leben Drusinnen und Drusen. Sie sind bereits seit der | |
| Gründung des Staates Israel seine Bürger, gelten als loyal zum Boden ihrer | |
| Vorfahren und damit auch zur kontrollierenden Staatsmacht. Bisher | |
| verweigern sie die Evakuierung – etwa aus dem nordisraelischen Dorf | |
| Hurfeisch, in dem Anfang Juni eine Rakete mehrere Menschen teils schwer | |
| verletzte. | |
| Zu den vielen in Schwarz gekleideten Menschen sind im Laufe des Nachmittags | |
| einige junge Männer hinzugekommen, in der tarngrünen Kleidung des Militärs, | |
| an der Schulter einen aufgenähten fünffarbigen Stern, das Zeichen der | |
| Drusen. In Madschdal Schams, aber auch in Hurfeisch ist er allgegenwärtig. | |
| Als Anhänger an Ketten, als Sticker auf Autos und als Mosaik an Hauswänden. | |
| Einige haben Gewehre umgehängt, ein anderer hat eine Pistole lässig in den | |
| Hosenbund geklemmt. Er komme nicht aus Madschdal Schams, sagt er, sondern | |
| aus dem Norden Israels. Aber man halte zusammen, als Drusen, betont er, und | |
| steht mit gesenktem Kopf vor der Kuhle im Boden, die die Explosion auf dem | |
| Sportplatz hinterlassen hat. | |
| 29 Jul 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Drusen | |
| [2] https://zakaworld.org/ | |
| [3] https://www.idf.il/en/ | |
| [4] https://www.timesofisrael.com/ | |
| ## AUTOREN | |
| Lisa Schneider | |
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