# taz.de -- Sommerserie „Im Schatten“ (3): Henry kommt zum Schach vorbei | |
> „Kleiner Frieder“ heißt ein Nachbarschaftstreff in Friedrichshain. Unter | |
> Kastanienbäumen trifft man sich zu Kuchen, Gesellschaft und Austausch. | |
Bild: Gesellige Runde: der Nachbarschaftstreff „Kleiner Frieder“ in Friedri… | |
Berlin taz | Unter ausladenden Kastanienbäumen sitzen mitten am Tag zwei | |
Menschen im Schatten vor einem Tinyhouse aus hellem Holz mit großen | |
Fenstern, das „Kleiner Frieder“ heißt, und spielen Schach. Man gesellt sich | |
dazu, sagt Hallo und schaut interessiert eine kleine Weile zu. Das hat | |
etwas Entspanntes. | |
Rechts vorm Brett sitzt Niclas Triebel, links ein kleiner Junge mit bunten | |
Spangen im Haar, er heißt Henry, wie sich später herausstellt, und ist mit | |
seiner alleinerziehenden Mutter hier. Unvermittelt raunt er dem Reporter | |
zu: „Meine Taktik ist zu gewinnen!“ Aha. Zug um Zug geht es voran, dazu | |
gibt’s immer mal wieder Erklärungen von Niclas – hier duzen sich alle –, | |
und schon heißt es „Schach“ und gleich wieder „Schach“ und dann „Sch… | |
matt“. Niclas hat diesmal gewonnen. Das wurmt Henry nicht weiter. Denn es | |
gibt nachher Revanche. | |
Es ist Mittwoch. Das ist der Tag in der Woche, an dem Niclas Dienst hat. | |
Auch an anderen Wochentagen gibt es hier Angebote, Aushänge machen darauf | |
aufmerksam. Der mobile Nachbarschaftstreff „Kleiner Frieder“ – das | |
Tinyhouse hat Räder – ist Ableger und Außenstelle des Stadtteilzentrums | |
Friedrichshain, das von der Volkssolidarität betrieben wird, Niclas ist für | |
[1][Mobile Stadtteilarbeit] zuständig. Seit Anfang August 2023 steht der | |
„Kleine Frieder“ auf einem Teil des Parkplatzes an der Palisadenstraße Ecke | |
Koppenstraße in unmittelbarer Nähe zur Karl-Marx-Allee in Friedrichshain, | |
beschattet von den benachbarten ausladenden Kastanienbäumen. | |
„Wir wollen ein Treffpunkt für die Nachbarschaft hier im Kiez mit | |
Beratungsangeboten und offenen Treffs sein“, sagt Niclas. Das Tinyhouse | |
bietet Raum für unterschiedliche Angebote, für Treffen von Initiativen, von | |
Vereinen und Selbsthilfegruppen, für Beratungen für Geflüchtete und die | |
Nachbarschaft, Spieletreffs – umsonst und draußen. Bei schlechtem Wetter | |
aber und auch in der kalten Jahreszeit finden im Tinyhouse kleine Gruppen | |
ihren Platz. | |
## Auch ohne Geld zusammenfinden | |
Das Schönste allerdings ist: Hier kann man sich zusammenfinden und | |
austauschen, im wahrsten Sinne niederlassen, auch wenn man wenig oder gar | |
kein Geld hat, ohne dass es etwas kostet oder es einen Verzehrzwang gibt. | |
Das [2][Stadtteilzentrum Friedrichshain] hat insgesamt drei Standorte. Es | |
gibt die „Pauline“ in der Pauline-Stegemann-Straße 6 und den (gewissermaß… | |
großen) „Frieder“ in der Friedensstraße 32 sowie in der Hausnummer 34 den | |
„LeihPunkt“, wo Werkzeuge etc. auszuleihen sind. Der „Frieder“ ist gera… | |
geschlossen, dort – in der ehemaligen Polizeiwache – wird ein neues großes | |
Stadtteilzentrum gebaut. | |
Die Grundsanierung dauert wohl bis weit hinein ins vierte Quartal des | |
nächsten Jahres, erzählt Niclas bei einem Kaffee unter Kastanien. | |
Gewissermaßen als Ersatz wurde der „Kleine Frieder“ erfunden. „Wir wollt… | |
im Kiez weiter aktiv bleiben und mit der Nachbarschaft ins Gespräch kommen | |
und ein niedrigschwelliges Angebot schaffen.“ | |
Nun, das ist offensichtlich gelungen. An diesem Mittwoch lädt wie immer an | |
diesem Tag das Kiez-Café von 14 bis 16 Uhr ein. Niclas und zwei Kolleginnen | |
sind dann vor Ort. Es gibt Kaffee und verschiedene Tees und Kuchen gegen | |
eine kleine Spende. Den Kuchen sollte man unbedingt versuchen, denn der ist | |
verdammt lecker, die Frauen von der Backgruppe des Stadtteilzentrums haben | |
ihn gebacken. | |
## „Mittwochs ist immer Uwe da“ | |
Man kann Schach spielen wie Henry. Oder Gesellschaftsspiele ausleihen oder | |
jonglieren oder sich einfach niederlassen und unterhalten – oder das | |
Fahrrad auf Vordermann bringen lassen. „Mittwochs ist immer Uwe da“, | |
erzählt Niclas, „der gerne Fahrräder repariert – ehrenamtlich.“ Nur lei… | |
heute nicht. „Uwe ist mit anderen 15 Leuten in der | |
Andy-Wahrhol-Ausstellung.“ Der Besuch ist ein Angebot des | |
Stadtteilzentrums. | |
Sabine Drangsal ist dort für die Ehrenamtler und die Stadtteilprojekte | |
zuständig. Sie bietet immer donnerstags von 14 bis 16 Uhr sowie montags von | |
10 bis 12 Uhr eine Art Sprechstunde für allerlei Alltagssorgen an, wie | |
immer gibt es Kaffee, Tee und Kuchen. Samstags findet zudem von 13 bis 15 | |
Uhr ein offener Treff statt. „Wir versuchen, mit dem Kleinen Frieder Raum | |
und Struktur vorzugeben, und sind ansprechbar und offen für die Menschen | |
aus dem Kiez“, sagt Sabine. „Wer Lust hat mitzumachen und sich einbringen | |
will, ist mit seinen Ideen willkommen.“ | |
Sabine – wie gesagt: hier duzt man sich – erzählt von einem englischen | |
Journalisten aus dem Kiez, der schon immer mal Stadtführungen anbieten | |
wollte. Nun macht er genau das und offeriert ortskundige Stadtspaziergänge | |
wie den rund um die Weberwiese in Friedrichshain. „Es geht um Teilhabe und | |
Austausch untereinander“, sagt Sabine, „und darum, die Leute ins eigene Tun | |
zu bringen. Das hier ist Demokratiearbeit.“ | |
Welche Zielgruppe peilt die Volkssolidarität mit dem Projekt an? „Alle sind | |
die Zielgruppe“, sagt Niclas, „alle, die an einem toleranten Miteinander | |
interessiert sind.“ Mal kommen gut ein Dutzend Leute, mal auch nur fünf, | |
sagt Niclas. „Es kommen Junge und Alte, die Besucherschaft ist bunt | |
durchmischt.“ Mal sind es Stammgäste, manchmal Laufkundschaft. Gerne würden | |
das Angebot Senioren annehmen, die zu Hause niemanden zum Reden haben. Die | |
„Pauline“, der Standort in der Pauline-Stegemann-Straße, ist für viele aus | |
dem Kiez schon zu weit weg, um zu Fuß hinzukommen und die Fahrt mit der | |
Tram zu umständlich, erzählt Niclas. Und auch, dass es „manchmal reicht, | |
ein guter Zuhörer zu sein“. | |
## „Ich bin hier unter Leuten“ | |
Niclas arbeitet für das Stadtteilzentrum als Werkstudent mit 20 Stunden pro | |
Woche. Der 27-Jährige studiert Sozialwissenschaften an der | |
Humboldt-Universität und hat zuvor schon ehrenamtlich im Stadtteilzentrum | |
mitgearbeitet. Er hat eineinhalb Jahre eine Smartphone-Sprechstunde | |
angeboten. „Der Bedarf nach Beratung ist groß.“ Danach schloss sich ein | |
Pflichtpraktikum im Rahmen des Studiums an. Und nun der Job im „Kleinen | |
Frieder“ – und schon begrüßt Niclas einen Stammgast. | |
Die Dame mit Sonnenhut hat sich gerade ein Stückchen Kuchen und einen Tee | |
gegönnt. Sie möchte ihren Namen nicht in der Zeitung lesen, gibt aber | |
bereitwillig Auskunft. Sie wohnt um die Ecke, „es ist gar nicht weit“, nur | |
ein paar hundert Meter, mit dem Rollator schafft sie den kurzen Weg. | |
Die 93-Jährige ist „so gut wie jeden Mittwoch“ hier unter den | |
Kastanienbäumen, wie sie erzählt, manchmal geht sie auch zum Tauschmarkt. | |
„Ich bin hier unter Leuten und sitze nicht allein zu Hause rum“, sagt sie, | |
„das ist doch gut.“ Sie würde sich jedes Mal ein Stück Kuchen gönnen und | |
betont, wie glücklich sie darüber ist, dass es den „Kleinen Frieder“ gibt. | |
„Das hier ist für jedermann. Das ist doch toll.“ | |
Wie zur Bestätigung kommen zwei junge Frauen mit einem Kind vorbei. Das | |
sucht in der Kiste mit gespendeten Spielsachen, die zu verschenken sind, | |
nach etwas Brauchbarem, während es sich die Erwachsenen im Schatten unter | |
den Kastanien bequem machen und plauschen. | |
## Für einen kleinen Plausch ist immer Zeit | |
Ein paar Minuten später kommt eine ältere Frau mit einem Fahrrad vorbei und | |
hat ein Plüschtier in der Hand. Sie hat Zeit für einen klitzekleinen | |
Plausch mit Sabine, die fragt, ob nicht Zeit für einen Kaffee wäre? Die | |
beiden kennen sich offensichtlich gut. „Nein“, erwidert die Angesprochene, | |
„heute nicht, ich muss zu meiner Mutter, da gibt es jetzt Kaffee. Aber beim | |
nächsten Mal. Und den hier“ – sie wedelt mit dem Stoffhasen – „hätte … | |
euch ja gespendet, wenn er noch Augen hätte.“ | |
Kurz danach ist Sabine erneut in einem kurzen Gespräch, denn immer wieder | |
kommen Passanten vorbei, bleiben stehen und lesen in den Aushängen oder | |
greifen nach einem der Flyer. Der „Kleine Frieder“ mitsamt seinem Publikum | |
fällt halt auf (und ein Aussteller macht in mehreren Sprachen auf ihn | |
aufmerksam). Ein junger Mann mit Migrationshintergrund fragt, was das hier | |
denn sei? Aufgeklärt, sagt er: „Das ist ja interessant, dann komme ich bald | |
mal mit meinen Kindern vorbei, wir wohnen hier im Kiez.“ | |
Vielleicht auch mal zum Bingo? Seit Juni bietet Niclas das einmal im Monat | |
an, immer am vierten Mittwoch des Monats. Damals kam Henry mit seiner | |
Mutter durch Zufall vorbei – seitdem lassen sich die beiden öfter hier | |
sehen, damit Henry Schach gegen Niclas unter den Kastanienbäumen spielen | |
kann. Bleibt ein Wermutstropfen: Öffnet der „große“ Frieder wieder – das | |
wird voraussichtlich nach einem Testbetrieb Anfang 2026 sein –, wird der | |
„Kleine Frieder“ wohl wieder verschwinden, an eine Verstetigung des | |
Projekts ist (bislang jedenfalls) nicht gedacht. | |
5 Aug 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://stadtteilzentren.de/orte/friedrichshain-kreuzberg/ | |
[2] https://volkssolidaritaet-berlin.de/einrichtungen/stadtteilzentrum-friedric… | |
## AUTOREN | |
Andreas Hergeth | |
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