# taz.de -- Heul-Shootings und Cry-Partys: Ein Club für alle, die gern weinen | |
> Einige weinen wegen Liebeskummer, andere wegen der Deutschen Bahn. Eine | |
> Studentin aus Lüneburg will Tränen in der Öffentlichkeit salonfähig | |
> machen. | |
Bild: Echt zum Heulen: Für Kinder ist weinen ganz normal, im Erwachsenenaltern… | |
Bremen taz | Stimmt etwas nicht mit mir? Diese Frage hat sich Carlotta | |
Brüdersdorf gestellt, als sie gemerkt hat: Ich weine öfter als andere. Mit | |
ihrem Public Cry Club auf Instagram will sie nun andere erreichen, die sich | |
das gleiche fragen. Brüdersdorf findet weinen heute nämlich ganz normal. | |
„Es ist kein großes Ding. Du weinst, weil du ein Mensch bist, weil es | |
dazugehört, weil es gut tut.“ | |
Sie selbst weine sehr oft, sagt sie. Mehrfach in der Woche, und auch | |
einfach sehr schnell. Die Gründe sind vielfältig: Überforderung, Stress, | |
Freude. Oft gibt es nicht einmal einen bestimmten Anlass. „Wenn ich | |
Emotionen in mir habe, die eine Spannung auslösen, dann weine ich, um das | |
rauszulassen.“ Oft ist das aber keine freie Entscheidung – und so passiert | |
es auch in der Öffentlichkeit. | |
„Letzte Woche hat mir eine Freundin in einem Café erzählt, dass sie aus | |
Lüneburg wegzieht. Das hat mich kalt erwischt, dann habe ich richtig | |
losgeheult.“ Weinen in der Öffentlichkeit sei ihr nie besonders schwer | |
gefallen, sagt Brüdersdorf. „Aber es gab Situationen, in denen ich mich | |
trotzdem nicht damit wohlgefühlt habe.“ Vor allem, wenn eine Stimme in ihr | |
gesagt habe: Was denken jetzt wohl die anderen? | |
Der Wunsch kam auf, daran etwas zu ändern. „Es sollte keine Situationen | |
geben, in denen man sich so fühlen muss, als dürfte das gerade nicht sein – | |
nur weil man Gefühle hat, die raus wollen.“ Es geht ihr mit dem Projekt | |
nicht darum, dass alle in der Öffentlichkeit weinen sollen. Aber darum, | |
dass es in Ordnung sein sollte. „Natürlich regulieren wir uns als | |
erwachsene Menschen. Doch ich würde mir wünschen, dass wir etwas | |
unmittelbarer miteinander umgehen.“ | |
Brüdersdorf kommt aus dem schleswig-holsteinischen Ratzeburg. In ihrer | |
Familie hat sie erlebt, dass weinen in Ordnung ist. Heute ist sie 23 und | |
studiert in Lüneburg Kulturwissenschaft. | |
Brüdersdorf sagt über ihren Public Cry Club: „Das ist ein interaktiver | |
Account. Er hängt davon ab, dass Menschen sich trauen.“ Trauen, ihre | |
Heul-Geschichten zu erzählen. So bekommt Brüdersdorf Nachrichten, manche | |
mit Fotos, die sie dann veröffentlicht. Einige weinen wegen Liebeskummer, | |
andere wegen der [1][Deutschen Bahn]. | |
In den meisten Beiträgen ist Brüdersdorf selbst zu sehen. „Leute, warum | |
gibt es eigentlich keine Cry-Partys, wo man einfach mal richtig geil | |
zusammen heult?“, fragt sie in einem der Videos, in denen sie mal nicht | |
weint. „Ich will keinen Techno hören, ich will Adele oder Tom Odell und | |
Birdy und einfach mal richtig heulen beim Feierngehen. Mache ich eh | |
meistens.“ | |
## Wein-Club und Heul-Shootings | |
Anfang des Jahres hat Brüdersdorf [2][mit dem Public Cry Club] begonnen. | |
Eher ungeplant, erst mit einem privaten Account. „Das Texten zu den Fotos | |
hat mir sehr geholfen.“ Irgendwann hat sie die Bilder öffentlich gemacht. | |
Heute folgen ihr knapp 2.200 Menschen, mehrheitlich Frauen. | |
Zwei weitere Projekte sind inzwischen entstanden: Heul-Shootings mit einem | |
Fotografie-Studenten aus Hannover, die mindestens online, vielleicht auch | |
analog ausgestellt werden. Und die Gestaltung von Plakaten aus | |
beleidigenden Kommentaren mit einer Grafikdesignerin. Als die ersten | |
Hass-Kommentare kamen, hat Brüdersdorf ihren Account vorübergehend nicht | |
öffentlich gemacht. „Darauf musste ich mich erst mal vorbereiten. Jetzt | |
nehme ich das in Kauf.“ | |
27 Jul 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Bilanz-der-Deutschen-Bahn/!6022807 | |
[2] https://www.instagram.com/public.cry.cluub/ | |
## AUTOREN | |
Alina Götz | |
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