| # taz.de -- Die Kunst der Woche: Berliner Zeitvergleich | |
| > Renate von Mangoldt fotografiert durch Zeitschichten. Die | |
| > Mitkunstzentrale verschiebt Grenzen zwischen Möbeln und Skulptur und | |
| > zieht die Natur zu Rate. | |
| Bild: Möbelstück oder Skulptur: warum nicht beides? Arbeit von Erik Göngrich… | |
| Zurzeit hat Berlin Ferien. Das heißt, die Berliner sind im Urlaub und so | |
| wirkt die Stadt im Moment sehr leer. Ihre Stein- und Betonmassen scheinen | |
| hinter dem Grün der Straßenbäume, Parks, Schwimmbäder und Seen verschwunden | |
| zu sein. Dafür kann man sie andernorts um so besser kennenlernen: in der | |
| Jebenstraße 2, gleich hinter dem Bahnhof Zoo. | |
| Dort zeigt die Helmut Newton Foundation die großartige Ausstellung „Berlin, | |
| Berlin“, und das [1][Museum für Fotografie] im Obergeschoß schließt gleich | |
| mit zwei spannenden Ausstellungen an: „Michael Wesely. Berlin 1860-2023“ | |
| und „Renate von Mangoldt: Berlin Revisited. Zeitsprünge | |
| 1972-1987/2021-2023“. | |
| Seit 20 Jahre gibt es das Fotomuseum und die Helmut Newton Foundation, die | |
| dieses Jubiläum sehr bewusst mit den ikonischen und weniger bekannten | |
| Berlin-Bildern von Helmut Newton feiert – kontextualisiert durch die | |
| Aufnahmen vieler anderer interessanter und wichtiger Fotografinnen und | |
| Fotografen –, war es doch die Liebe zu seiner Geburtsstadt, die den von den | |
| Nazis vertriebenen Fotografen bewog, die Stiftung mit seinem Nachlass und | |
| dem seiner Frau Alice Springs hier anzusiedeln. Die sehenswerte | |
| Berlin-Revue umspannt den Zeitraum von 1930 bis in die 2000er Jahre. | |
| Sehr viel weiter zurück in die Geschichte Berlins und der Fotografie blickt | |
| Michael Wesely mit seinen zwei neuen Werkkomplexen „Doubleday“ und „Human | |
| Conditions“, nämlich bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts. Für | |
| „Doubleday“ überblendet Wesely historische Architektur- und Stadtaufnahmen | |
| berühmter Fotografen wie etwa Waldemar Titzenthaler oder Max Missmann mit | |
| seinen eigenen Aufnahmen, die er am exakt gleichen Ort gemacht hat. Und so | |
| begegnen sich in seinen Sandwiches am Alexanderplatz Flaneure des 19. und | |
| Tourist:innen des 21. Jahrhunderts | |
| „Human Conditions“ ist eine erneute, genaue Auseinandersetzung mit den | |
| Aufnahmen der Königlich Preußischen Messbildanstalt. Sie hatte es sich ab | |
| 1885 zur Aufgabe gemacht deutsche Baudenkmäler so genau wie möglich zu | |
| fotografieren und dann zu archivieren. Wesely digitalisierte die 40 x 40 cm | |
| großen Glasnegative und untersuchte sie auf Spuren menschlicher Anwesenheit | |
| und Aktivität. Tatsächlich ist es ihm in ausgewählten Bildausschnitten | |
| gelungen, zum Beispiel einen Bauarbeiter in der Mittagspause mit seiner | |
| Frau, die ihm das Essen gebracht hat, sichtbar zu machen. | |
| Vielleicht, weil vor zwei Wochen Heinz Bude, Bettina Munk und Karin | |
| Wieland, bei [2][Vincenz Sala] aus ihrem gemeinsamen Roman „Aufprall“ lasen | |
| und ich mich seitdem mit dem durch die Wende ebenfalls untergegangenen | |
| West-Berlin vertraut zu machen versuche, hat mich Renate von Mangoldts | |
| Berliner Zeitvergleich besonders angesprochen. | |
| Es geht eben um West-Berlin in den 70er und 80er Jahren einerseits und das | |
| heutige Gesamtberlin andererseits. Auf zwei Schwarz-Weiß-Fotografien, eine | |
| vom Ku’damm 1973 und eine von der S3 1997, folgen zwei Farbaufnahmen, eine | |
| von der U 8 2021 und eine vom Ku’damm 2022. Statt des Herrenausstatters, | |
| der sich im Schaufenster selbst zu seinen Preisen gratuliert, was doch | |
| einigermaßen verdächtig ist, und davor der dunkelhäutige Mann, der eher | |
| „Gastarbeiter“ als Tourist zu sein scheint, steht dort heute Dior, und wie | |
| es der Zufall will, kommt der Fotografin auch hier ein Schwarzer Mann ins | |
| Bild, deutlich als wohlhabender Berlinbesucher zu erkennen. | |
| Die umherschweifende Fotografin hat eindeutig ein Konzept, dem sie | |
| glücklicherweise nicht so eindeutig folgt. So fotografiert sie 2021 nicht | |
| strikt immer den selben Ort wie 1974 – auch wenn sie das manchmal tut, wie | |
| im Fall des Hofs an der Meinekestraße oder des Lottoladens Radeland- Ecke | |
| Pausinerstraße – und dann fotografiert sie zwar den selben Ort, aber nicht | |
| aus der gleichen Perspektive wie etwa bei der Kongresshalle. Oft muss man | |
| zweimal hinschauen, um den Clou der Aufnahme oder das Vergleichsfoto zu | |
| finden. | |
| Mangoldt betont den Eigenwert der Aufnahmen und zugleich die Subjektivität | |
| ihres Blicks, was unbedingt den Charme der vergleichenden Serien ausmacht, | |
| die ihren Charakter als Straßenfotografie nicht der Systematik opfern. | |
| ## „Skulpturale Gemeingüter“ | |
| Mit „Berlin, Berlin“ ließe sich auch die Ausstellung „Materielle | |
| Kollaborationen“ der Mitkunstzentrale im ZAK – Zentrum für Aktuelle Kunst | |
| in Spandau, gut charakterisieren. Wo sonst gäbe es schon eine solche | |
| Ansammlung bunter, fantastischer, wirklich ungewöhnlicher und daher | |
| gewöhnungsbedürftiger Möbel? Man ist sich auch nicht sicher, ob der Begriff | |
| Möbel der richtige ist, obwohl man Tische sieht und Anrichten aus | |
| Schrankelementen. | |
| Aber da kommt man auch schon ins Stolpern, weil manche dieser Anrichten, | |
| Regale und Schränke nicht wirklich gebrauchstüchtig ausschauen und man sie | |
| eher als großartige, absurde Skulpturen aus den Hinterlassenschaften | |
| unserer Interieurs betrachtet. | |
| Die Künstlerinnen und Designer der Mitkunstzentrale Erik Göngrich, Valeria | |
| Fahrenkrog, Nora Wilhelm und weitere temporäre Mitstreiter, sprechen von | |
| „skulpturalen Gemeingütern“, die durch „künstlerische Praktiken des | |
| Recyclings von Materialien, Geschichten und Ideen“ entstehen, wie es im | |
| frei erhältlichen Katalogheft heißt. | |
| Es können also, müssen aber nicht, funktionale Objekte entstehen; der | |
| experimentelle Ansatz soll den Objekten anzusehen sein, denn im Nachdenken | |
| über ihren nicht ohne weiteres erkennbaren Sinn, ihre Funktion und | |
| Konstruktion klären wir uns unweigerlich über unsere Wahrnehmungsmuster und | |
| -routinen auf und erkennen dann vielleicht mögliche sinnvolle, weil z.B. | |
| ressourcensparende Alternativen. | |
| Ein wunderbares Demonstrationsobjekt ist der Schubladen_Hocker. Er besteht | |
| aus einem hochkant gestellten Schubladenelement und unterläuft unsere | |
| Gewohnheit, Gegenstände nach ihren offensichtlichsten Funktionen zu | |
| kategorisieren. Als Hocker taugt er wohl, aber was fällt uns zu den | |
| Schubladen ein, die nicht mehr wirklich zu gebrauchen sind? | |
| Sehr schön ist auch ein anderes Beispiel, nämlich der Sitz_Schrank, ein | |
| riesiges Trumm von einer Sitzgelegenheit für eine, maximal zwei Personen, | |
| das von ersten Nutzer:innen als unpraktisch bewertet wurde. | |
| Nicht alle Experimente gelingen, und das zu sehen ist tröstlich und | |
| wichtig, denn diese Erfahrung machen wir alle immer wieder und sie ist | |
| Anlass, es wieder zu versuchen, neue Ideen zu entwickeln und dann besser zu | |
| scheitern wie Samuel Beckett sagt. Wie im Fall des Sitz_Schranks mit einem | |
| beigestellten Tischchen, das mit Zeichenutensilien bestückt ist, um | |
| Hemmungen zur Nutzung abzubauen. | |
| Das ZAK beindruckt mit einer geradezu beängstigend großen | |
| Ausstellungsfläche, die die Mitkunstzentrale aber mühelos und immer wieder | |
| interessant und neu zu bespielen weiß. Die Kollaboration zahlt sich aus, | |
| eine solche Fülle an unterschiedlichen Materialien, Ideen und Objekten ist | |
| alleine nicht zu bewältigen (und allein auch nicht in einer Besprechung zu | |
| würdigen). Die Kooperation mit dem Fachgebiet für Angewandte und Molekulare | |
| Mikrobiologie der TU Berlin zeigt sich etwa in den Pilzen, die im | |
| Ausstellungsraum zu finden sind. Ein Resultat des Seminars „Biotechnologie | |
| im Kontext von Kunst und Design“. | |
| Aber auch Küchenforschung und -praxis betreibt die Mitkunstzentrale im | |
| Satellit, einer ehemaligen Gaststätte im Kiezbereich des Hauses der | |
| Statistik und des Hauses der Materialisierung, wo die Mitkunstzentrale | |
| angesiedelt ist und die Künstler:innen ihre Ateliers haben. Auch hier | |
| sollte man unbedingt vorbeischauen. | |
| 21 Aug 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.smb.museum/museen-einrichtungen/museum-fuer-fotografie/ausstell… | |
| [2] https://vsala.com/ | |
| ## AUTOREN | |
| Brigitte Werneburg | |
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