| # taz.de -- Ikonisches Attentats-Foto: Ein Jackpot, aber für wen? | |
| > Vom Attentat auf Trump kursiert besonders ein Foto – dabei zeigt es nur | |
| > einen winzigen Aspekt. Ikonische Fotografie kann Komplexität nicht | |
| > erfassen. | |
| Vergangenes Wochenende entstanden Bilder, die jetzt schon ikonisch zu | |
| nennen sind. Natürlich ist die Rede von der versuchten Ermordung Donald | |
| Trumps in Pennsylvania. Eine Reihe von Pressefotografen war vor Ort, | |
| [1][und es wurden viele Fotos gemacht], von denen insbesondere eines weit | |
| verbreitet wurde: Von unten fotografiert, zeigt es Trump von | |
| Sicherheitsbeamt:innen umgeben. Im Hintergrund weht die amerikanische | |
| Fahne vor einem tiefblauen Himmel. Trump hat eine Faust gereckt, und sein | |
| Blick geht vermeintlich in die Ferne. Es ist ein Bild von Stärke und Macht. | |
| Livemitschnitte des Ereignisses zeigen freilich etwas ganz anderes: Sie | |
| zeigen Chaos. Trump, der auf dem Foto so stark wirkt, ist offensichtlich | |
| verwirrt. Er scheint unter Schock zu stehen. Die gereckte Faust wirkt | |
| zunächst halbherzig, auch wenn sich die Gestik wiederholt. | |
| Genau das ist Fotografie und genau das macht Fotografie: Sie greift aus dem | |
| nicht enden wollenden Kontinuum der Zeit einzelne kurze Augenblicke heraus, | |
| die Anwesende in dieser Form vielleicht gar nicht bemerkt hätten. [2][Evan | |
| Vucci beschrieb einen Tag später im Guardian], wie er das Bild aufnahm. | |
| Dabei sandte seine Kamera seine Bilder direkt an die Redaktion – erst 45 | |
| Minuten später sah er sein Foto in sozialen Medien. In dem Artikel | |
| besprechen Vucci und diverse Redakteure das Bild. Ein solches Bild | |
| fotografiert zu haben, beschreiben sie als „Jackpot“, also als Hauptgewinn. | |
| Die Komposition des Bildes sei fantastisch, so Carly Earl, eine | |
| Bildredakteurin. | |
| Wenn sich Studierende an einer Kunsthochschule mit Fotografie beschäftigen, | |
| lernen sie als Erstes, zwei Aspekte eines Fotos zu betrachten. Zum einen | |
| die Form eines Bildes. Darunter fällt seine Komposition. Und dann gibt es | |
| aber auch noch den Bildinhalt: Was genau zeigt das Bild? Und wie verbinden | |
| sich Form und Inhalt, um den Gesamtausdruck eines Fotos zu kommunizieren? | |
| Im Guardian-Artikel gibt es keine tieferen Überlegungen darüber, was genau | |
| das Foto zeigt, was es bedeuten könnte, was es bewirken könnte. Wie kann | |
| das sein? Konkreter gefragt: Wie kann es sein, dass sich Menschen, deren | |
| Beruf es ist, sich mit Fotografien kritisch auseinanderzusetzen, in so | |
| einem Augenblick den vielleicht wichtigsten Aspekt des Bildes ignorieren: | |
| Welche Wirkungsmacht wird dieses Bild eines Mannes haben, der bereits | |
| einmal versucht hat, die demokratischen Prozesse seines Landes während | |
| einer tiefen politischen Krise aufzuhalten? | |
| Anders gefragt: Wäre es nicht geboten gewesen, ein anderes, weniger | |
| dramatisches Bild auszuwählen? Ich erinnere mich zum Beispiel an ein Foto | |
| eines Schuhs, den Trump auf der Bühne verloren hatte. Die tiefe politische | |
| Krise der USA betrifft alle Bürger:innen. Das beinhaltet auch | |
| Fotograf:innen, Bildredakteur:innen und andere Journalist:innen. Die | |
| Idee eines unparteiischen Journalismus, so gut sie auch gemeint ist, | |
| versagt in dem Augenblick, in dem die Demokratie auf dem Spiel steht und, | |
| um das nebenher noch zu erwähnen, die freie Presse von Leuten wie Trump als | |
| Feind bezeichnet wird. Als vermeintlicher Feind neutral sein zu wollen, ist | |
| bestenfalls naiv. Ich halte es für grob fahrlässig. | |
| Wenn überhaupt etwas geboten wäre nach einem solch dramatischen Ereignis, | |
| dann ist es Nachdenken und Innehalten. Das Trump-Foto regt nicht zum | |
| Nachdenken an. Stattdessen hält es Betrachter:innen vom Nachdenken ab – | |
| und vertieft die Spaltung des Landes nur noch weiter. Aber die Diskussionen | |
| über das Bild und die Tatsache, dass sich so viele | |
| Pressevertreter:innen des Problems gar nicht bewusst sind, spiegeln | |
| auch wider, in welchem Maße Pressefotografie noch immer in einem veralteten | |
| Modell gefangen ist. In einer Zeit komplexer Multikrisen ist es schlichtweg | |
| absurd, ein Ereignis auf ein einzelnes Bild reduzieren zu wollen. | |
| Diskussionen über ikonische Bilder sind ein Ausdruck einer Zeit nach dem | |
| Zweiten Weltkrieg, als das Modell des heroischen Fotojournalisten entstand, | |
| der unter Einsatz seines Lebens dramatische Fotos produziert. Genau dieses | |
| Modell wird angewandt, wenn die Organisation „World Press Photo“ jedes Jahr | |
| die „besten“ Pressebilder auszeichnet. Das Problem ist nicht, dass die | |
| Fotos schlecht sind oder dass sie nicht das bebildern, was sie darzustellen | |
| haben. Das Problem ist die Unterkomplexität, die daraus resultiert. | |
| Insbesondere ikonische Bilder reduzieren ein komplexes Thema oder Ereignis | |
| oft auf eine leicht begreifbare Ebene, die wichtige Aspekte ausklammert. | |
| ## Was ist der Kontext? | |
| Freilich ist unsere kollektive Sehnsucht, ein ikonisches Bild zu sehen, | |
| Ausdruck unserer Verzweiflung, wenn zu viele Details und Aspekte ein Thema | |
| zu komplex machen. Wenn wir doch wenigstens das eine Bild hätten, das alles | |
| zeigt! Das kann Fotografie aber eben zumeist nicht leisten. Das Innehalten, | |
| das wir dringend benötigen, um mit den Multikrisen umgehen zu können, muss | |
| dort anfangen, wo die Flut der Informationen eintrifft, ausgewählt und dann | |
| beschrieben wird. Das betrifft Fotograf:innen, Bildredakteur:innen und | |
| andere Journalist:innen. Fotos sollten nicht nach vereinfachten Aspekten | |
| ausgewählt werden, egal wie gut die Komposition auch sein mag. Jackpots | |
| gehören in Casinos und nicht in seriöse Bildredaktionen. | |
| Stattdessen müssen sich alle Beteiligten die Frage stellen, was – noch mal | |
| – für eine Wirkungsmacht ein Bild hat und was es zum Verständnis des | |
| Gesamtkontextes beitragen kann. Dies mag absurd erscheinen in einer Welt, | |
| in der es eine Flut von Bildern gibt. Aber wer, wenn nicht die Menschen, | |
| deren Beruf es ist, Bilder zu machen und zu verstehen, sollte in der Lage | |
| sein, wegweisend aufzutreten, um uns allen zu helfen, die Welt der Bilder | |
| besser zu verstehen? Wie wir am Wochenende lernen mussten, sind viele | |
| dieser Menschen leider dazu nicht in der Lage. Die Quittung dafür wird die | |
| Welt womöglich 5. November bei den Präsidentschaftswahlen bekommen. | |
| 18 Jul 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Schuesse-bei-Wahlkampfveranstaltung/!6023323 | |
| [2] https://www.theguardian.com/us-news/article/2024/jul/15/trump-rally-shootin… | |
| ## AUTOREN | |
| Jörg Colberg | |
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