| # taz.de -- Kino-Film über besonderen Judowettkampf: Der Hidschab nimmt ihr di… | |
| > Der Film „Tatami“ erzählt die wahre Geschichte eines Judowettkampfs. | |
| > Erstmals führen ein Israeli und eine Iranerin gemeinsam Regie. | |
| Bild: Die iranische Judoka Leila Hosseini (Arienne Mandi) gerät vor ihrem Kamp… | |
| Die iranische Staatsdoktrin zeigt bei Leila (Arienne Mandi) wenig Wirkung. | |
| Die junge Judoka sitzt mit ihren Teamkolleginnen in einem Bus, der sie zum | |
| Stadion im georgischen Tiflis fährt. Dort findet die Judo-Weltmeisterschaft | |
| der Frauen statt. Ihr Blick ist aus dem Fenster gerichtet, an dem die | |
| Landschaft des eurasischen Landes vorüberzieht. Als sich ihr die Kamera | |
| durch die Busreihen langsam nähert, wird die Musik immer lauter, die sie | |
| mit ihren Kopfhörern über den eng sitzenden Hidschab hört. Zu kraftvollen | |
| Beats rappt eine weibliche Stimme auf Farsi. Musik, die im streng | |
| autoritären Iran nicht geduldet wird – [1][erst recht nicht, wenn sie von | |
| einer Frau stammt]. | |
| Wenig später im Stadion treffen erstmals die Judo-Teams der teilnehmenden | |
| Länder aufeinander. Unter ihnen ist die israelische Judoka Shani, die von | |
| Leila herzlich begrüßt wird. Die beiden kennen sich von früheren | |
| Wettkämpfen. Während sie kurz miteinander sprechen und sich gegenseitig | |
| einen fairen Wettkampf wünschen, wird Leila von ihrer Trainerin Maryam – | |
| die von Co-Regisseurin Zar Amir gespielt wird – beobachtet, die ihr einen | |
| abfälligen Blick zuwirft. Danach geht es auf die Körperwaage. Es sind 300 | |
| Gramm zu viel. Ihr bleiben noch 20 Minuten, um diese auf einem | |
| Spinning-Bike abzustrampeln. | |
| Der Prolog von „Tatami“ setzt die Leitlinien dessen, was in den nächsten | |
| rasanten 90 Minuten folgen wird. Denn das iranische Regime verfolgt die | |
| Meisterschaft aufmerksam. Ein Aufeinandertreffen einer iranischen | |
| Sportlerin mit einer israelischen Konkurrentin muss mit allen Mitteln | |
| verhindert werden. Die Schmach einer möglichen Niederlage gegen den | |
| Erzfeind Israel wäre zu groß. Die politische Bedeutsamkeit des Films steckt | |
| dabei nicht nur im Drehbuch, sondern auch in seiner Entstehungsgeschichte. | |
| „Tatami“ ist der erste Film, bei dem ein Israeli und eine Iranerin | |
| gemeinsam Regie führten. | |
| Mit Beginn des Wettkampfs entwickelt der Film eine dramatische Sogwirkung, | |
| die sich bis zum Ende hin durchzieht. Die ersten Partien gewinnt Leila | |
| überlegen. Sie sei in Topform und eine heiße Anwärterin auf die | |
| Goldmedaille, erklärt der britische Kommentator des Turniers, der das | |
| Geschehen mit viel Verve aus dem Off begleitet. Das Gleiche gilt für die | |
| israelische Judoka, die ebenfalls Runde für Runde weiterkommt. Als sich | |
| abzeichnet, dass beide im weiteren Verlauf des Turniers aufeinandertreffen | |
| könnten, meldet sich das Regime aus Teheran bei Leilas Trainerin: Sie soll | |
| eine Verletzung vortäuschen und aus dem Wettbewerb aussteigen. Leila, die | |
| dem Gewinn der Goldmedaille noch nie näher war, widersetzt sich und bringt | |
| damit nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Familie im Iran in Gefahr. | |
| ## Leila lässt sich nicht beirren | |
| [2][Guy Nattiv, dessen letzter Film „Golda“ über Israels Premierministerin | |
| Golda Meir] kürzlich in den Kinos zu sehen war, und Zar Amir inszenieren | |
| ihren Film in kontrastreichen Schwarz-Weiß-Bildern. Hinzu kommt die äußerst | |
| wendige und präzise Kamera von Todd Martin, die Leila auf den grell | |
| erleuchteten Tatami (so werden die traditionellen Reismatten genannt, auf | |
| denen die Kämpfe stattfinden) geradezu umtänzelt, während sie ihre | |
| Gegnerinnen in den Schwitzkasten nimmt oder mit einem gekonnten | |
| Schulterwurf zu Boden bringt. Martin findet dabei immer wieder | |
| ungewöhnliche Perspektiven, wenn er die verknoteten Körper auf dem Ornament | |
| der Tatami-Matten aus einer weiten Vogelperspektive zeigt oder in einem | |
| Gegenschuss von unten die imposante Kuppel des Stadions über Leilas Rücken | |
| ragt. | |
| Das Stadion mit seinen verzweigten Katakomben wird zum Schauplatz eines | |
| nervenaufreibenden Politthrillers. Der Sport und das Turnier sind nur die | |
| Kulisse eines Kampfs für ein Leben ohne Gängelung und Unterdrückung durch | |
| einen fundamentalistischen Machtapparat. Das schmale Bildformat in 4:3 | |
| verstärkt die schier ausweglose Enge, in die sich Leila mit jedem | |
| gewonnenen Kampf manövriert. Je weiter sie im Turnier vorwärts kommt, desto | |
| größer wird der Druck des iranischen Regimes. Erst war es nur ein Anruf bei | |
| ihrer Trainerin. Es folgt die offene Einschüchterung durch einen iranischen | |
| Agenten, der Leila vor Ort abgreift. Schließlich wird sie mit einer | |
| Videobotschaft ihres verängstigten Vaters erpresst. | |
| Aber Leila lässt sich in ihrem Willen nicht beirren und macht weiter. Mit | |
| jedem Kampf schwinden ihre Kräfte, die zunehmende körperliche sowie | |
| psychische Überforderung der Situation steht ihr ins schmerzverzerrte | |
| Gesicht geschrieben. Arienne Mandi als Leila ist eine schauspielerische | |
| Wucht. In einer Schlüsselszene steht sie am Rande der Erschöpfung auf der | |
| Matte. Eine Panikattacke überkommt sie. Mit röchelndem Atem versucht sie | |
| das Gleichgewicht zu halten. Als ob der Hidschab ihr die Luft zum Atmen | |
| nimmt, reißt sie sich ihn vom Kopf, schöpft neue Kraft und setzt den Kampf | |
| fort. | |
| Solche Szenen könnten schnell in eine symbolhafte Theatralik abgleiten, | |
| werden hier aber ohne viel Aufhebens in das rasante Tempo der Dramaturgie | |
| eingebettet. „Tatami“ beruht auf wahren Begebenheiten von iranischen | |
| Sportlerinnen wie der Boxerin Sadaf Khadem, die bei einem Kampf in | |
| Frankreich ohne Kopftuch antrat und wegen einer drohenden Verhaftung nicht | |
| mehr in den Iran zurückkehrte. | |
| ## Abertausende Iranerinnen wollen frei von Zwang leben | |
| Leila ist eine Einzelkämpferin, die sich zunächst alleine den Widerständen | |
| entgegenstellt. Unterstützung bekommt sie von den beiden Leiterinnen des | |
| internationalen Judoverbands, denen die Einschüchterungsversuche nicht | |
| verborgen bleiben, und von ihrem Partner, mit dem sie immer wieder | |
| telefoniert und der das Turnier mit ihrer Familie vor dem Fernseher | |
| verfolgt. Zugleich steht sie für die Abertausenden Iranerinnen, die ihr | |
| Leben selbstbestimmt und frei von Zwang leben möchten. | |
| In einer der wenigen Rückblenden ist sie in einem Underground-Club zu | |
| sehen, wie sie mit offenem Haar tanzt. Anders hingegen ist ihre Trainerin | |
| Maryam angelegt. [3][Zar Amir, die zuletzt für ihre Rolle in „Holy Spider“ | |
| 2022 in Cannes die Auszeichnung als beste Schauspielerin gewann] und mit | |
| „Tatami“ ihr Regiedebüt gibt, spielt sie als innerlich zerrissene Figur, | |
| die als Judoka selbst auf Geheiß der Vorgesetzten eine Verletzung | |
| vortäuschen ließ. Im weiteren Fortgang des Turniers bekommt sie die | |
| Gelegenheit, die Sünden der Vergangenheit wiedergutzumachen, mit denen sie | |
| zu kämpfen hat. | |
| Als Jina Mahsa Amini am 16. September 2022 von der iranischen Sittenpolizei | |
| auf einer Teheraner Polizeiwache totgeprügelt wurde und die heftigsten | |
| Proteste seit der Islamischen Revolution von 1979 ausbrachen, waren Guy | |
| Nattiv und Zar Amir mitten in den Dreharbeiten zu ihrem Film in Tiflis – | |
| nur knapp 200 Kilometer von der iranischen Grenze entfernt. „Wir spürten | |
| die plötzliche Dringlichkeit, die Geschichte zu erzählen“, sagte Zar Amir | |
| dem Branchenblatt The Hollywood Reporter. Beim Dreh der Szene, in der Leila | |
| ihren Hidschab abnimmt, sei im Team kein Auge trocken geblieben. | |
| Während knapp zwei Jahre später jegliche Anzeichen von Protest mit | |
| äußerster Härte niedergeschlagen werden und widerständige Künstler wie der | |
| [4][zum Tode verurteilte Rapper Toomaj Salehi] ihr Leben riskieren, ist die | |
| iranische Protestbewegung längst aus dem Fokus der Weltöffentlichkeit | |
| verschwunden. Angesichts dieser misslichen Lage sind Geschichten wie jene, | |
| die in „Tatami“ erzählt wird, dringlicher denn je. | |
| 30 Jul 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tobias Obermeier | |
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