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# taz.de -- Neue ZDF-Serie „Simple“: Begrenzte Freiheiten
> Die ZDF-Serie „Simple“ erzählt mit Humor von Frauen mit
> Beeinträchtigungen bei ihrem Kampf für ein autonomes Leben. Das ist
> erfrischend.
Bild: Wohnen zusammen in einer WG: die vier Protagonist*innen in „Simple“
Die Schwierigkeit am [1][Zusammenleben] mit ihren Mitbewohnerinnen fasst
Patricia, genannt Patri (Anna Marchessi), schon in der ersten Folge der
spanischen Serie „Simple“ treffend zusammen: „Das Problem ist, dass jeder
etwas völlig anderes unter Freiheit versteht.“
Für sie bedeutet das Einhalten von Regeln Freiheit, für ihre
Mitbewohnerinnen mitunter eher das heimliche Übernachten am Strand und das
Einkaufen von Chips und Süßigkeiten, obwohl die Ernährungspyramide in der
Küche zu anderem ermahnt.
All diese Bedürfnisse zu navigieren und auch noch eine aufgeräumte Wohnung
vorweisen zu können, wenn die Sozialarbeiterin Laia (Bruna Cusi)
vorbeischaut, bietet Konfliktpotenzial zwischen den vier Frauen Patri,
Marga, Ángels und Nati.
Das Drehbuch schrieb Anna R. Costas basierend auf einer Buchvorlage von
Cristina Morales. Morales kritisierte im Rolling Stone unter der
Überschrift „Nazi“ die beschönigte Darstellung der Sozialarbeiter in der
Serienfassung. Costas erwiderte, sie habe ein differenziertes Bild von dem
Beruf zeichnen wollen. Das gelang ihr zweifellos.
## Sexuelle Bedürfnisse von Beeinträchtigten
Natürlich bleibt Freiheit für die Frauen sehr begrenzt: Immer wieder wird
bei aller Freundlichkeit und Loyalität Laias in die [2][körperliche und
räumliche Autonomie] der Frauen eingedrungen, werden im Notfall Zimmer
durchsucht und gynäkologische Untersuchungen angeordnet. „Ist deine Wohnung
immer aufgeräumt? Warum erwarten wir es dann von ihnen?“, fragt Laia ihre
Vorgesetzte.
„Simple“ bietet außerdem neue Blickwinkel auf ein völlig
unterrepräsentiertes Thema: die sexuellen Bedürfnisse von [3][Menschen mit
intellektueller Beeinträchtigung]. Marga (herausragend dargestellt von
Natalia de Molina) ist sexsüchtig. Ihr wird eine Sterilisation nahegelegt,
sie stimmt zu und lehnt dann doch ab.
Zustimmung – wie ungenau dieses Wort eigentlich ist, zeigt „Simple“ in Fo…
von Perspektivwechseln, bei denen die Zuschauerschaft im medizinischen
Vorgespräch von niederprasselnden Worten überwältigt wird wie die
Protagonistin. Sie unterschreibt den Antrag auf Sterilisation mit einer
gemalten Margarete, so wie ihr Name. Von Einverständnis kann hier kaum
gesprochen werden.
## Überdurchschnittlich häufig sterilisiert
Die Serie liefert eine weitere relevante Perspektive auf eine auch in
Deutschland aktuelle Debatte: Eine 2012 vom Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) veröffentlichte Studie zeigte, dass
intellektuell beeinträchtigte Frauen in Deutschland überdurchschnittlich
häufig sterilisiert sind oder stark wirkende Kontrazeptiva auch bei
sexueller Abstinenz einnehmen.
Die Serie verbleibt nicht beim Händchenhalten und Kichern zwischen Menschen
mit intellektueller Beeinträchtigung, sondern zeigt Sex. „Dora oder Die
sexuellen Neurosen unserer Eltern“ nach dem Drama von Lukas Bärfuss brach
dieses Tabu und blieb damit ein Einzelfall.
In „Simple“ sehen wir alles in mutigen Szenen mit zärtlicher Kameraführun…
die die Körper der Frauen nie objektifiziert: Übergriffigkeit,
Einvernehmlichkeit, Liebe, Lust und Selbstbewusstsein („Wenn wir
zusammenziehen, müsstest du dringend einen Kurs für autonomes Leben machen,
weil du dich im Haushalt ziemlich dämlich anstellst“, erklärt Patri etwa
ihrem Freund).
## Ähnlich wie Bechdel-Test
Es werden Eltern dargestellt, die von den sexuellen Bedürfnissen ihrer
Kinder mit Beeinträchtigung irritiert sind, und es wird das Ringen um
Inseln der Selbstbestimmung gezeigt, das Zurückerobern von Handlungsmacht
in sehr beschränkten autonomen Räumen.
Analog zum schon bekannteren [4][Bechdel-Test] über die Darstellung von
Frauen in Film und Serie existiert der DisRep-Test, auch Tyrion
Lannister-Test genannt, vom Behindertenrechtsaktivisten Andrew Pulrang. Er
fragt unter anderem, ob mindestens eine Figur mit Behinderung auftaucht,
die von einer Person mit Behinderung dargestellt wird, nicht auf ihre
Behinderung reduziert wird und die etwas „macht“, also nicht nur als
Handlungsmotivator für Hauptfiguren fungiert.
Anna Marchessi, Darstellerin von Patri, hat selbst eine intellektuelle
Beeinträchtigung, und „getan“ wird hier jede Menge. In der Schlussszene
fragt Marga, ob sie auch dann noch behindert wäre, wenn sie der letzte
Mensch auf der Welt sei. „Ja, klar“, antworten die anderen. „Aber dann
könnte es keiner mehr zu mir sagen“, erwidert sie.
25 Jul 2024
## LINKS
[1] /Zusammenleben-mit-70/!5975906
[2] /Jurist-ueber-Behinderung-und-Teilhabe/!5985915
[3] /Menschen-mit-geistiger-Behinderung/!5913755
[4] /Kampf-gegen-das-Patriarchat/!5880054
## AUTOREN
Marie-Sofia Trautmann
## TAGS
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