# taz.de -- Schuljahresende an Waldorfschulen: In die Ferien hinein meditieren | |
> Unsere Kolumnistin fragt sich, wie an Waldorfschulen Zeugnisse zustande | |
> kommen. Gar nicht so schwer, weiß sie heute: Es reicht das innere Auge. | |
Bild: Zeugnis der Rudolf-Steiner-Schule „In den Walddörfern“ bei Hamburg, … | |
„Lea ist ein sehr liebes, rundum gesundes und harmonisches Kind.“ – der | |
erste Satz in meinem ersten Waldorfschulzeugnis. Da wir keine | |
Halbjahreszeugnisse bekamen, war der letzte Tag vor den Sommerferien | |
wirklich ein ganz besonderer Tag. Wir wurden einzeln aufgerufen und mussten | |
uns das Zeugnis im geschlossenen Umschlag mit einem mündlichen Kommentar | |
von der Klassenlehrerin abholen. | |
Zu Hause haben meine Eltern den Brief geöffnet, ab und an beim Lesen | |
geschmunzelt und mir gesagt, es wäre ein gutes Zeugnis. Lesen durften wir | |
es erst ab der 6. Klasse. Ich habe noch meinen Zeugnisspruch bekommen und | |
dann sind wir Eis essen gegangen. Angst vor schlechten Noten musste ich | |
keine haben. | |
Wenn ich jetzt meine Zeugnisse lese, fällt mir auf, dass mein | |
Leistungsstand unklar bleibt, dafür aber mein Wesen intensiv behandelt | |
wird. In meinem Zeugnis steht, ich sei mit „warmherziger Innigkeit und | |
Hingabe“ beteiligt gewesen und würde mich „stets bescheiden und hilfreich | |
in das Ganze einordnen“, sei eine „Stütze der Klasse“. Außerdem sei | |
himmlische Helle durch mein Herz geflossen oder meine Willenskräfte hätten | |
im Laufe des Jahres abgenommen. Meine Erinnerungen sind anders. Wieso wurde | |
dieses Kind für meine Eltern gezeichnet? | |
Von meiner LRS steht nichts, obwohl ich deswegen sogar „Extrastunde“ und | |
Heileurythmie hatte. Stattdessen: „Lea arbeitet langsam, mit viel Bedacht, | |
doch auch manchmal oberflächlich.“ Und: „Ich wünsche Lea, dass sie […]n… | |
und nach lernt, einige ihrer Umkreisantennen auf die eigene Sorgfalt zu | |
richten.“ In meinem Zeugnisspruch musste ich jeden Freitag aufsagen, dass | |
manches Werk „sorgsam stilles Walten“ bräuchte und ich war davon überzeug… | |
dass ich hartnäckig an meinem Wesen arbeiten müsse. | |
## „Kontemplativer Prozess“ | |
Ich hab mich gefragt, wie Waldorfzeugnisse zustande kommen. Im Magazin des | |
Bundes der Freien Waldorfschulen steht 2022: „Wir stellen uns jedes Kind, | |
jede:n Jugendliche:n vor unser inneres Auge, widmen uns wertschätzend | |
den jungen Menschen im Erkennen dessen, was geleistet wurde. Wir messen das | |
Kind an sich selber […]. Fast ein kontemplativer Prozess.“ Meine Zeugnisse | |
wurden also dahin meditiert. Das erklärt so einiges. | |
[1][Noch esoterischer wird es] beim Nürnberger Waldorflehrerseminar: Es | |
stünde nicht die „Vergangenheits-Bilanz“ im Vordergrund, sondern „die | |
Ansprache des in der Entwicklungszeit noch verborgenen künftigen Menschen, | |
der seine freien Ich-Kräfte emanzipieren will.“ Und bei den „Freunden der | |
Erziehungskunst“ ist das Zeugnis „ein Gutachten“ über „das gesamte | |
schulische Leben“. Daher steht wohl in meinem Zeugnis, dass ich eine „tiefe | |
und innige Freundschaft zu einer Klassenkameradin geknüpft“ und oft mein | |
Kuscheltier neben die Tafel gesetzt hätte. | |
Offenkundig war nichts privat und [2][alles wurde anthroposophisch | |
interpretiert]. Es fühlt sich anmaßend und übergriffig an, derlei Dinge | |
zwölf Jahre lang über mich zu lesen und zu wissen, dass meine Lehrkräfte | |
täglich mit diesem Blick auf mich geschaut haben. | |
[3][Wir hatten zwar keine Noten], aber begutachtet wurden wir dennoch – | |
ganzheitlich – in unserem ganzen Sein beurteilt. Auch wenn die | |
Waldorf-Literatur lieber von „charakterisiert“ spricht. Was für eine | |
Erleichterung, als im Studium nur noch meine Leistung evaluiert wurde und | |
nicht mehr ich als Mensch. | |
15 Jul 2024 | |
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## AUTOREN | |
Frau Lea | |
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