# taz.de -- „Zeugnissprüche“ an Waldorfschulen: Ein wöchentliches Ritual | |
> An Waldorfschulen müssen Schüler*innen jede Woche ihre Zeugnissprüche | |
> rezitieren. Doch sie bieten eine Steilvorlage für Mobbing und | |
> Schamgefühle. | |
Bild: Der Junge hat wohl Probleme mit seinem Zeugnisspruch | |
Ich bin Samstagskind. Wie die meisten Waldorfkinder weiß ich das, weil wir | |
unseren Zeugnisspruch immer am Wochentag unserer Geburt aufsagen – oder in | |
meinem Fall einen Tag vorher. Den Zeugnisspruch bekommt man [1][während der | |
achtjährigen Klassenlehrerzeit] als Teil des Zeugnisses und rezitiert ihn | |
dann jede Woche. | |
Wenn ich dran war, rief mich meine Lehrerin auf. Ich lief nach vorne, | |
stellte mich vor die Tafel, sagte meinen Spruch auf – und ging dann schnell | |
zurück an meinen sicheren Platz. Es war das Normalste der Welt. Alle haben | |
das gemacht. Auch diese Woche werden schätzungsweise wieder 50.000 Kinder | |
in Deutschland ihren Zeugnisspruch aufsagen. | |
Als ich vor drei Jahren meine Zeugnisse mit den Zeugnissprüchen erneut las, | |
wurde mir schlecht. Ich war schockiert, wie harmlos ich es damals fand und | |
wie ernst ich es genommen habe. Am schlimmsten war der Spruch aus der 4. | |
Klasse: | |
„Still für sich geschafft,Ist ein Quell der Kraft. Froh sich andern | |
einzureihen,Lässt das Ganze gut gedeihen,wird vom Eigensinn befreien.“ | |
## Ein morgendliches Ritual | |
So wussten dann alle, inklusive mir, dass ich zu eigensinnig und | |
geschwätzig war, und wurden wöchentlich neu daran erinnert. Oder wie sich | |
der Pädagogikprofessor Prange ausdrückt: „Das zugeschriebene Selbstbild | |
wird öffentlich ritualisiert und bekräftigt.“ Beschwert habe ich mich nie. | |
[2][So war es halt.] Genutzt hätte es wohl eh nichts. Ich weiß bis heute | |
von keinem Fall, wo ein Kind einen neuen Zeugnisspruch bekommen hätte, weil | |
es seinen nicht mochte. | |
Wenn ein Kind den Text vergaß, nuschelte, hampelte oder zu leise sprach, | |
bekam es Hilfe von der Klassenlehrerin. Manchmal wohlwollend, manchmal | |
beschämend oder drangsalierend. Beneidet wurden Kinder mit kurzen Sprüchen, | |
die nicht zu offensichtlich korrigierend waren. | |
Ich war wahlweise zu verträumt, zu verkopft, zu eigensinnig oder zu | |
flüchtig. Andere Kinder waren zu schüchtern oder zu aufbrausend, zu laut | |
oder zu leise, schafften es nicht, etwas zu Ende zu führen, oder sollten | |
tüchtiger werden. Das war mir immer bewusst, wenn jemand seinen Spruch | |
aufsagte. Sowohl bei mir als auch bei den anderen. | |
Wenn man nachfragt, können [3][die meisten Waldorfkinder gruselige | |
Geschichten] rund um Zeugnissprüche erzählen: dass ein Mitschüler seinen | |
Spruch jedes Mal weinend aufsagte, dass die lispelnde Mitschülerin extra | |
einen Spruch mit vielen Zischlauten bekam oder dass ein Mittwochskind jeden | |
Mittwoch früh Bauchschmerzen hatte und zu Hause blieb. Und selbst wenn es | |
einem selbst leicht fiel und man beim Spruch Glück hatte, beobachtete man | |
gegebenenfalls jede Woche, wie andere Kinder struggelten. Ich hab das | |
damals als sinnvolle Normalität abgespeichert – aber es hat etwas mit mir | |
gemacht. | |
## Steilvorlage für Mobbing | |
Horst Hellmann, international tätig in der Waldorflehrerausbildung, sagt: | |
„Weil an dem Spruch das ganze Jahr hindurch gearbeitet wird, ist das | |
Zeugnis in seiner Essenz immer präsent, jedoch nicht als moralischer | |
Zeigefinger, sondern, wenn es gelingt, als ‚Arbeit im Gewande der Freude‘.�… | |
Und wenn es nicht gelingt? Dann ist es eine Steilvorlage für Mobbing und | |
Schamgefühle. | |
Wie können ausgebildete Pädagogen*innen denken, es sei eine gute Idee, | |
einzelne Kinder vor der ganzen Klasse quasi poetisierte Kopfnoten des | |
Zeugnisses aufsagen zu lassen, damit sie „daran wachsen“?! | |
8 Sep 2024 | |
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## AUTOREN | |
Frau Lea | |
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