| # taz.de -- Korpsgeist in Waldorfklassen: Disziplin und cholerische Bauern | |
| > In den Waldorfklassen verschwindet das Individuum in der Gruppe. Klingt | |
| > super, der Preis für die Einzelnen aber ist mitunter sehr hoch. | |
| Bild: Schüler:innen einer Waldorfschule beim Proben eines Theaterstücks | |
| Die Highlights im Waldorfjahr: Feste, [1][Klassenfahrten], Monatsfeiern, | |
| Praktika und Klassenspiele. Man wächst als Waldorfkind selbstverständlich | |
| damit auf. | |
| Mit vier Jahren beim Adventsgärtlein eine Kerze anzünden, tragen, abstellen | |
| – und die Erwachsenen singen. Mit sieben auf der großen Bühne vor 500 | |
| Menschen sprechen. Ab elf Jahren Wanderungen, Radtouren, Paddeltouren. | |
| Stärker und selbstbewusster werden. | |
| Beim Forstpraktikum im kalten Herbstnebel Hunderte Setzlinge pflanzen. | |
| Natur erleben. Weitere Aufführungen. Beim Landwirtschaftspraktikum 3 Wochen | |
| lang für einen cholerischen Demeter-Bauern arbeiten. Und mehrfach mit der | |
| ganzen Klasse schwer bepackt bei sengender Sonne oder im Regen 50 Kilometer | |
| Sandweg radeln oder 1.000 Höhenmeter wandern. | |
| Die Erwachsenen waren verzückt, stolz und sehr überzeugt, es würde uns | |
| Kindern und insbesondere uns Jugendlichen gut tun. Sie schwärmten von | |
| unseren [2][Entwicklungssprüngen]. Drei Zentimeter größer wären wir. | |
| Auch wenn die Herausforderungen sich ändern, sind es meist dieselben, die | |
| hinterherhängen – erschöpft, oft mit Schmerzen – und dieselben, die gener… | |
| warten müssen. Wer sich seinen Text oder die Eurythmieform nicht merken | |
| kann, spürt die Angst und den Unwillen der Gruppe, sich wegen Einzelner vor | |
| der Schulgemeinschaft zu blamieren. Das individuelle Erleben ist | |
| unterschiedlich, aber ich kann mich nicht erinnern, dass es je keine Tränen | |
| bei diesen Projekten gegeben hätte. | |
| Ich habe der Erwachsenenperspektive geglaubt. Ich war stolz darauf, ein | |
| gutes Waldorfkind zu sein. Selbstüberwindung, Disziplin und sich fügen, | |
| auch wenn diese Worte niemand benutzt hat. Eher „Mut“ und „über sich hin… | |
| wachsen“. Wenn Mitschüler*innen klagten oder zusammenbrachen, hatte ich | |
| wenig Verständnis dafür. Man musste sich nur mal ordentlich zusammenreißen. | |
| So mit Willen und so. | |
| Normal halt. Aber ist es das? Wie ging es uns als Individuen? Was ist dabei | |
| innerlich vielleicht auch zerbrochen? Welche Abhängigkeiten wurden | |
| zementiert? Wir waren nach solchen Gemeinschaftsprojekten als Klasse | |
| durchaus funktionaler. Aber zu welchem Preis? Gruppen regulieren sich auch | |
| auf Kosten der Individuen. | |
| Viele Erfahrungen waren durchaus wertvoll und gleichzeitig sehe ich heute | |
| viele Situationen kritisch. Zumal es keine validen Möglichkeiten gab, sich | |
| zu entziehen oder abzubrechen. Alle mussten bei den Theateraufführungen | |
| eine Rolle übernehmen und alle mussten mit auf Tour. | |
| Es gab kein Entrinnen und wenig Selbstbestimmung. Wir bekamen zwar keine | |
| Noten, aber es herrschte Konformitätsdruck und permanentes Beobachtetsein | |
| in der Schulgemeinschaft – schließlich bleibt man zwölf Jahre beisammen. | |
| Was von außen als gemeinschaftsstiftend gepriesen wird, kann sich von innen | |
| beengend anfühlen. Und ist es überhaupt Gemeinschaft, wenn sie so wenig auf | |
| Freiwilligkeit beruht, oder eher Korpsgeist? | |
| Wenn ich heute vor Menschen spreche, misst meine Uhr einen Puls von 160 und | |
| mein Hemd ist verschwitzt, während ich gleichzeitig denke, es mache mir | |
| nichts aus. | |
| Ich habe gelernt, meine Selbstwahrnehmung abzustellen, meine Grenzen ohne | |
| Widerstand zu übergehen, und Burn-outs sind mir sehr vertraut. | |
| Gruppenzugehörigkeit wiederum löst bei mir teils irrationale Ängste aus. | |
| 17 Jun 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Frau Lea | |
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