# taz.de -- Die Wahrheit: Pappkameraden fürs Parlament | |
> Händeringend werden nach den Wahlen im Osten Mandatsträger gesucht. Da | |
> hilft nur die offizielle Entrümplerin. | |
Bild: Die zarte Pusteblume Demokratie unter Druck (Symbolbild) | |
Im Büro von Katja Schernau, die für die Landeswahlleitung von | |
Sachsen-Anhalt arbeitet, herrscht seit Wochen riesiger Andrang. Bevor die | |
Mandatsträger der vergangenen Kommunalwahl mit der politischen Arbeit | |
beginnen können, muss die stellvertretende Wahlleiterin überprüfen, ob sie | |
physisch in der Lage sind, das Amt wirklich auszuüben. Dazu muss erst | |
einmal geklärt werden, ob es sich bei den gewählten Kandidaten um real | |
existierende Personen, Attrappen oder um bloße Hirngespinste handelt. | |
„Wenn unser Amtsarzt halbwegs verlässlich Vitalzeichen oder eine | |
rudimentäre Hirntätigkeit feststellen kann, sind wir schon zufrieden“, | |
erklärt Schernau, die neuerdings auch als Entrümplerin arbeitet. Gerade | |
wickelt sie einen AfD-Armleuchter mit der Nazi-Gravur „Alles für | |
Deutschland“ in Seidenpapier. „Als Gemeinderat können wir ihn nicht | |
zulassen“, erklärt Schernau. „Aber auf Ebay bekomme ich sicher ein hübsch… | |
Sümmchen dafür.“ | |
## Aus deutschem Fleisch und Blut | |
Spätestens mit den Kommunalwahlen in Sachsen-Anhalt, Thüringen, Brandenburg | |
und Baden-Württemberg hat der Fachkräftemangel auch die Politik erreicht. | |
In Sachsen-Anhalt können insgesamt 162 Mandate nicht ausgeübt werden, weil | |
den Parteien das politische Personal fehlt. Gerade in den östlichen | |
Bundesländern hat der Souverän zielsicher an den verfügbaren | |
Humanressourcen vorbeigewählt. Während geschasste Kommunalpolitiker von SPD | |
und Linken stempeln gehen müssen, konnten rechte Parteien weit mehr Stimmen | |
ergattern, als ihre Listen Kandidaten aufweisen. Allein die AfD kann | |
deswegen in Sachsen-Anhalt 120 ihrer errungenen Mandate nicht mit | |
Parteigenossen aus deutschem Fleisch und Blut besetzen. In Brandenburg sind | |
es immerhin 40 Sitze, die laut Kommunalrecht bis zum Ablauf der Wahlperiode | |
unbesetzt bleiben müssen. | |
Im Wahlkampf hatte die kaderschwache Rechte den Personalmangel trickreich | |
versteckt, indem sie Strohmänner und Deko-Objekte, vereinzelt sogar Gefühle | |
auf die hinteren Plätze ihrer Wahllisten eingetragen hatte. Das rächt sich | |
nun. | |
„Normalerweise ist das egal, weil der Bodensatz der Listen sowieso nie ins | |
Parlament einzieht“, erklärt Katja Schernau, weist dann aber auf einen | |
politischen Trend hin. „Eine Celebrity-Partei wie das Bündnis Sahra | |
Wagenknecht besteht halt nur aus der Spitzenkandidatin. Dahinter kommen nur | |
noch Pappkameraden.“ | |
## Promoviertes Rindviech | |
Nicht immer ist für unerfahrene Wähler der Unterschied zwischen einer | |
Attrappe und einem richtigen Kandidaten zu erkennen. In der | |
baden-württembergischen Uhrmacherstadt Schwippsingen wurde ein | |
stadtbekannter Kuckuck für das heimattreue Bündnis „Schwarzwoid z’ärschd… | |
in den Gemeinderat gewählt, doch weigert sich der Volksvertreter seither, | |
sein Uhrgehäuse wie gewohnt zur vollen Stunde für eine kurze Ansprache an | |
seine Wähler zu verlassen. Im anhaltischen Elendsleben wurde das „Diffuse | |
Unbehagen“ einer lokalen Wählerinitiative zum Bürgermeister gewählt. | |
Nun steht dieses durchaus unangenehme Gefühl wie abgestandener Bierdunst im | |
Magdeburger Büro der Landeswahlleitung herum, denn die Sitzplätze sind alle | |
belegt. Auf der ledernen Couchgarnitur stapeln sich Blumentöpfe, Stroh- und | |
Schaufensterpuppen. Ausgestopfte Tiere und Mumien warten auf ihre | |
Begutachtung. Ein Rindvieh blättert in einer Broschüre zur politischen | |
Bildung, dann verspeist es das Papier mit Hochgenuss, bevor der Wiederkäuer | |
mit dem Namensschild „Dr. Friedemann Pösenitz, AfD“ sich am Hosenbein von | |
Katja Schernau zu schaffen macht. | |
„Sie ahnen nicht, was uns hier als Kandidat untergejubelt wird!“, empört | |
sich die Landeswahlleiterin und lässt ihre Peitsche knallen. Das | |
promovierte Rindviech verzieht sich, doch das Geräusch weckt ein paar der | |
wirklich sehr muffig riechenden Mumien. | |
## Kandidaten mit Zellteilung | |
„Lügenpresse! Systempartei! Feminazi!“, röcheln die Untoten, dann verfall… | |
die Parteigänger der Freien Wähler wieder in ihre ideologische | |
Leichenstarre. Offenbar handelt es sich um halb fossilierte Reichsbürger, | |
die jäh aus ihrem Barbarossaschlaf geweckt wurden. | |
Aber auch diese ewiggestrigen Wiedergänger werden wohl ein politisches Amt | |
bekleiden können, denn wie Schernau zugeben muss, wurden die Kriterien für | |
Mandatsträger in Sachsen-Anhalt noch einmal gesenkt. | |
Ab sofort reicht es, wenn gewählte Kandidaten mindestens eine Zellteilung | |
hinter sich gebracht haben. „Wir müssen wenigstens ein paar der 162 Sitze | |
füllen, sonst verliert die repräsentative Demokratie bei den Leuten noch | |
mehr Rückhalt“, seufzt Katja Schernau. | |
Ein Rudel Neonazis zieht unter lauten „Heil-hott!“-Rufen ihren Kandidaten | |
für den Ortschaftsrat von Dessau-Roßlau durch den Flur. Es handelt sich um | |
ein riesiges Holzpferd, in dessen Bauch sich offensichtlich weitere | |
Neonazis verbergen. Katja Schernau setzt einen Haken in ihre Kladde: „Das | |
kann man gelten lassen, denke ich.“ | |
21 Jul 2024 | |
## AUTOREN | |
Christian Bartel | |
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