# taz.de -- Sport in 100 Jahren: Die Emotionen kochen hoch | |
> In der Zukunft wird Fußball zur Randsportart. Für Hysterie im Stadion | |
> gibt es etwas Neues: Gedichte. | |
Bild: Als GPS-Westen noch für neue Datengedichte sorgten | |
Alle gucken gerade die Fußball-Europameisterschaft. Früher war es noch | |
lustig, an einem Spieltag der deutschen Nationalmannschaft durch | |
menschenleere Straßen zu spazieren. Heute erinnert mich das zu sehr an den | |
[1][ersten Corona-Lockdown]. Also gucke ich notgedrungen mit. Außerdem bin | |
ich an einem Tippspiel von ein paar Kolleg*innen beteiligt und habe gute | |
Chancen auf den Sieg. Die steigen ins Unermessliche, als Felix aus dem Jahr | |
2124 mich besucht. Natürlich stelle ich meinem zeitreisenden Freund erst | |
Butterbrot und Bier auf den Tisch, bevor ich die alles entscheidende Frage | |
stelle: | |
„Wer gewinnt eigentlich die EM?“ | |
„Keine Ahnung“, nuschelt er mit vollem Mund und hebt entschuldigend die | |
Arme. „Aber bevor du fragst: Ja, es wird bei uns noch Fußball gespielt, | |
aber das ist eher eine Randsportart und lange nicht so erfolgreich wie | |
Agosentis. Das ist der Hit!“ | |
Seine Augen beginnen zu leuchten, die halb aufgegessene Semmel auf seinem | |
Teller ist plötzlich nicht mehr so wichtig. „Stell dir vor, du siehst den | |
besten Athlet*innen der Erde dabei zu, wie sie in einem gnadenlosen | |
Parcours gegeneinander antreten. Nur die Besten kommen überhaupt ans Ziel. | |
Aber dann, wenn sie sich körperlich völlig verausgabt haben, kommt erst der | |
Höhepunkt des Wettkampfs: Sie müssen innehalten und dem Publikum ein | |
Gedicht vortragen.“ | |
„Wieso das denn?“ | |
Er seufzt. „Du kannst dir vorstellen, dass wir mit Turbokapitalismus, | |
Digitalisierung und KI jede nur erdenkliche Art von Sport-Entertainment | |
durchgespielt haben. Und je besser wir darin geworden sind, große Spektakel | |
zu inszenieren, desto abgestumpfter wurden wir. Was die Menschen aber immer | |
fasziniert, sind andere Menschen und ihre Emotionen. Deshalb ist es die | |
Aufgabe der Athlet*innen, beim Publikum mit einem Lied oder einem Text oder | |
einer Performance so starke Gefühle wie möglich hervorrufen.“ | |
## Sensoren messen den Hormonspiegel im Schweiß und registrieren | |
Muskelzuckungen in Gesichtern | |
„Und wie will man das feststellen?“ | |
„Über im Stadion angebrachte Sensoren. Die messen etwa den Hormonspiegel im | |
Schweiß oder analysieren die Atemluft. Außerdem registrieren sie | |
Mikromuskelzuckungen in den Gesichtern. Und wenn die Leute jubeln, weiß | |
jeder, was los ist. Bei internationalen Wettkämpfen werden Spitzenwerte | |
einer Massenhysterie erreicht. Im legendären Endspiel von 2078 hat Harkan | |
der Herzensbrecher über zweihundertfünfzig Fans in Ohnmacht gesungen. Die | |
Geschichte, die Senex Enoui bei ihrem letzten Auftritt erzählt hat, war so | |
traurig, dass sich in den folgenden Tagen 38 Prozent der Zuschauer*innen | |
[2][wegen depressiver Episoden] krankschreiben ließen – seitdem gibt es | |
eine Obergrenze für den Cortisolspiegel bei traurigen Geschichten. Legendär | |
ist auch die sechsfache Weltmeisterin Athena Brown. Sie hat ihre Hater mit | |
einer Publikumsbeschimpfung so in Rage versetzt, dass sie die [3][Ostkurve | |
des Berliner Olympiastadions] zum Einsturz gebracht haben. Absoluter | |
Wahnsinn.“ | |
„Klingt so. Und irgendwie auch eher nach Theater als nach Sport. Warum | |
müssen sich die Athlet*innen denn vorher überhaupt so verausgaben?“ | |
„Das hat historische Gründe. Für Sportveranstaltungen bekommen die Vereine | |
mehr Fördergelder als für Kultur, und die Leute zahlen mehr Eintritt. | |
Außerdem haben die Zuschauer*innen ausreichend Zeit, Bratwurst und Bier | |
zu kaufen oder sich überteuerte Fanartikel andrehen zu lassen. Sonst | |
verdienen die Vereine und Sponsoren ja kein Geld.“ | |
„Das kommt mir bekannt vor. Also alles wie bei uns.“ | |
8 Jul 2024 | |
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## AUTOREN | |
Theresa Hannig | |
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