# taz.de -- Wie sich die Ukraine verteidigt: Kein Durchbruch. Nirgends | |
> Für viele westliche Meinungsmacher stand die Ukraine vor Kurzem mal | |
> wieder vor dem Kollaps. Dahinter stecken Ignoranz oder Wunschdenken. | |
Bild: Von den enormen russischen Verlusten steht auf diesen Propagandaplakaten … | |
Als der russische Machthaber Wladimir Putin vor zweieinhalb Jahren seine | |
Großinvasion in der Ukraine begann, war er wie weltweit die meisten | |
Politiker und Experten davon überzeugt, dass die Ukraine innerhalb weniger | |
Tage fallen würde. Der russische Staatschef stützte sich dabei vor allem | |
auf den Mythos, dass die Ukraine ein gespaltener und schwacher Staat mit | |
einer Armee sei, die sich nicht selbst verteidigen könne. Noch überzeugter | |
war er von der Unfähigkeit des Westens, einig zu sein und zu bleiben und | |
die Ukraine dauerhaft zu unterstützen. | |
Nach 28 Monaten Konfrontation mit einer der größten Armeen der Welt gibt es | |
in Kyjiw aber immer noch eine ukrainische Regierung, und über dem | |
Parlament, der Werchowna Rada, weht weiterhin die ukrainische Flagge. Doch | |
jedes Mal, wenn westliche Geheimdienste über die Konzentration neuer | |
russischer Gruppen entlang der ukrainischen Grenze berichten, sagen | |
Analysten einen baldigen Durchbruch der Frontlinie voraus, der | |
katastrophale Folgen für die Ukraine haben könnte. So geschehen Anfang Mai, | |
als russische Truppen die ukrainische Staatsgrenze im Norden des Landes in | |
der Region Charkiw überschritten. | |
„Düstere Prognose von Militärexperten: ‚Dammbruch‘-Szenario für Front … | |
Ukrainekrieg“ oder „Schock in der Ukraine: Wie kam es zu dem militärischen | |
Fiasko für Kyjiw?“ – solche und ähnlich dramatische Schlagzeilen erschein… | |
häufig in den Medien. Analysten der britischen Zeitschrift The Economist | |
prognostizierten Anfang des Jahres, dass die neue Offensive Russlands | |
weitaus schwieriger einzudämmen sein werde als die zu Beginn der Invasion. | |
Vor diesem Hintergrund haben andere führende westliche Medien wiederholt | |
pessimistische Szenarien für die Ukraine veröffentlicht, bis hin zu einer | |
Offensive russischer Truppen in Richtung Charkiw und Kyjiw. Jedes Mal | |
provozieren solche Veröffentlichungen Debatten über die Zweckmäßigkeit | |
einer militärischen Unterstützung der Ukraine, wenn Russland doch angeblich | |
ohnehin nicht zu besiegen ist. | |
Manchmal scheint es sogar, als ob man sich auf diese Weise wünschte, dass | |
die Front in der Ukraine wirklich zusammenbräche und die Russen einen | |
Durchbruch erzielten – um damit die uneinsichtigen Ukrainer endlich zu | |
Verhandlungen mit Russland und zur Annahme seiner Ultimaten zu zwingen. Die | |
Lage an der Front ist jedoch sowohl für die Ukraine als auch für Russland | |
viel komplexer, als es die These von der Unbesiegbarkeit Russlands | |
vermittelt. | |
## Hohe russische Verluste | |
Das Wort Durchbruch muss sehr bewusst verwendet werden. Die heutige Lage an | |
der Front erlaubt es nicht, von Frontdurchbrüchen und der schnellen | |
Eroberung von Gebieten in kurzer Zeit zu sprechen, wie es im Frühjahr 2022 | |
der Fall war. Die heutige Front ist auf beiden Seiten unglaublich gesättigt | |
mit Drohnen verschiedener Typen – Aufklärungs-, Angriffs-, Wärmebild- und | |
Nachtdrohnen. Diese Situation lässt keine schnellen Durchbrüche zu, da | |
beide Seiten die Aktionen der anderen Seite auf dem Schlachtfeld deutlich | |
sehen können. | |
Dies ist auch einer der Gründe, warum die russische Armee nicht mehr in | |
Fahrzeugkolonnen vorrücken kann: Diese werden sofort vernichtet, wie | |
bereits mehrfach geschehen. Auch wenn die russische Armee personell und | |
materiell überlegen ist, kann sie daher nur an einzelnen Frontabschnitten | |
lokalisierte Durchbrüche erzielen, was sie auch tut. Gleichzeitig sind | |
unter diesen technologischen Bedingungen die Verluste der russischen Armee | |
an Personal und Technik deutlich höher als die erzielten Ergebnisse. | |
Im Durchschnitt verliert Russland bei seinen Offensivversuchen in der | |
Ukraine [1][etwa tausend Soldaten pro Tag]. Das sind selbst für die | |
russische Armee erhebliche Verluste. Dies hat zur Folge, dass die | |
Mobilisierungsressourcen, die diese Verluste ausgleichen sollen, nicht | |
genügend Zeit für die Ausbildung haben und schlecht trainierte Soldaten | |
langsam vorankommen und schnell sterben. Jeder neu eroberte Kilometer | |
ukrainischen Territoriums kostet die russische Armee Tausende von | |
Menschenleben. | |
## Voraussetzungen für einen langen Zermürbungskrieg | |
Die ukrainische Seite, die ihr Land verteidigt, steht vor noch größeren | |
Herausforderungen. Der anhaltende russische Druck erschöpft die ukrainische | |
Armee, die personell stark unterbesetzt ist und deren | |
Mobilisierungsbemühungen gescheitert sind. Das Fehlen von Granaten aufgrund | |
einer sechsmonatigen Verzögerung der versprochenen US-Militärhilfe erzwang | |
etwa den Verlust von Städten wie Awdijiwka. Die in letzter Minute an der | |
Front angekommene Hilfe hat jedoch nicht nur die russische Offensive in der | |
Oblast Charkiw gestoppt, sondern die Russen sogar zurückgedrängt und sie | |
daran gehindert, die Ruinen der von ihr zerstörten Stadt Wowtschansk | |
einzunehmen. | |
Trotz der Sättigung mit Granaten ist es für die ukrainische Armee viel | |
schwieriger, die Frontlinie in der Region Donezk zu halten, wo die | |
russische Armee, die die Fehler der ukrainischen Militärführung und die | |
Verzögerung der Hilfe ausnutzt, langsam, aber sicher vorrückt und sich der | |
strategisch wichtigen Stadt Pokrowsk mit mehreren Tausend Einwohnern | |
nähert. All diese Faktoren schaffen derzeit die Voraussetzungen für einen | |
langen Zermürbungskrieg. | |
In den ukrainischen Volksmärchen geht es häufig um vermeintlich Schwache, | |
die sich mit Einfallsreichtum und Gerissenheit gegen die Starken wehren. | |
Genau das tut die Ukraine, um sich gegen Russland zu verteidigen. Auch mit | |
weniger Ressourcen ist die Ukraine in der Lage, der russischen Armee | |
wirksam entgegenzutreten und ihre Gebiete zurückzuerobern, insbesondere | |
wenn die Unterstützung der Verbündeten nicht politischer Manipulation zum | |
Opfer fällt. | |
Und wenn der US-Präsidentschaftskandidat Trump in der Debatte mit Biden | |
sagte, [2][die Ukraine werde diesen Krieg verlieren,] dann sollte man ihn | |
außer an die hier dargelegten Fakten daran erinnern, dass es sich bei | |
diesem Krieg nicht nur um einen Kampf der Ukraine gegen Russland handelt, | |
sondern um eine Konfrontation von Demokratien gegen eine Allianz aus | |
Autokratien. Im Kreml führen solche Aussagen dazu, dass die Landkarte | |
Europas aufgeklappt wird, um das nächste Opfer der Aggression zu bestimmen. | |
29 Jun 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.nytimes.com/2024/06/27/us/politics/russia-casualties-ukraine-wa… | |
[2] https://newsukraine.rbc.ua/news/ukraine-s-not-winning-war-trump-at-debate-1… | |
## AUTOREN | |
Anastasia Magasowa | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Drohnenkrieg | |
Propaganda | |
Ukraine | |
Russland | |
GNS | |
Social-Auswahl | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Straflager | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Rückkehrpflicht für ukrainische Männer: Unpopuläre Mobilisierungen | |
Ukrainer dürfen wegen des Krieges ihr Land nicht verlassen. Viele versuchen | |
es trotzdem. Kyjiw verhandelt mit EU-Ländern über Rücksendung. | |
Kriegsgegner in Russland: Widerstand aus Menschlichkeit | |
In Russland ist ein 17-Jähriger zu sechs Jahren Straflager verurteilt | |
worden. Er hatte Molotowcocktails auf zwei Militärrekrutierungszentren | |
geworfen. | |
Tiefgefrorene Ukrainedebatte: Im Westen nichts Neues | |
Mützenich und Strack-Zimmermann sind Putins stärkste Verbündete: Der eine | |
will ihm nicht die Stirn bieten, die andere Politik nicht sozial abfedern. |