# taz.de -- Agrarökologe über Renaturierungsgesetz: „Müssen Monitoring ver… | |
> Das Renaturierungsgesetz der EU eröffnet Chancen für den Naturschutz, | |
> sagt der Agrarökologe Josef Settele. Aber einige Lobbygruppen blockieren | |
> weiter. | |
Bild: Totholz im Wald am Schaumberg, Saarland | |
wochentaz: Herr Settele, wieso sagen uns Schmetterlinge, ob es einer | |
Landschaft gut oder schlecht geht? | |
Josef Settele: Wenn auf Wiesen oder Äckern viele verschiedene | |
Schmetterlingsarten vorkommen, dann können dort auch andere Insekten leben, | |
die offene Agrarlandschaften brauchen. Darum ist das Vorkommen von | |
Schmetterlingen ein Indikator, mit dem das neue Gesetz zur | |
Wiederherstellung der Natur misst, wie es um die Biodiversität in einer | |
Landschaft bestellt ist. Das Schöne an diesem Indikator ist: Es gibt ihn | |
schon. In allen 27 EU-Staaten gibt es ein Tagfaltermonitoring. 6.000 | |
Ehrenamtler erfassen überall in der EU regelmäßig auf die genau gleiche | |
Weise Daten. Das ist eine hervorragende Grundlage für ein europaweites | |
Monitoring. Man könnte das natürlich auch mit Wanzen machen, aber die sind | |
nicht so sympathisch wie Schmetterlinge. | |
Da ist man ja eher froh, wenn die weg sind … | |
Ach was, es gibt ganz tolle Wanzen! Aber die sind schwerer zu bestimmen. Es | |
gibt in ganz Deutschland gut 180 verschiedene Arten von Tagfaltern, jeder | |
hat vor seiner Haustür bis zu 40 Arten – wenn die Haustür in tollen | |
Landschaften steht. Die können auch Laien nach einer gewissen Einarbeitung | |
gut auseinanderhalten, wobei sie dann auch schon keine Laien mehr sind. In | |
Deutschland haben wir 500 Ehrenamtler für diese Erfassungen, die sind | |
inzwischen ausgewiesene Kenner. Es erwartet übrigens auch künftig keiner | |
von Landwirten, dass sie für die Erfüllung des Nature Restoration Law | |
Schmetterlinge zählen. Für die Betriebe und Gemeinden ist das Ergebnis | |
interessant. Sie können überprüfen, was es bringt, wenn sie etwa mehr | |
Hecken oder Blühstreifen anlegen. | |
Also, wie geht es unseren Landschaften? | |
Wir haben in einer Studie die Artenvielfalt von Schmetterlingen in | |
Natura-2000-Gebieten mit der in nicht geschützten Gebieten verglichen, im | |
Zeitraum von 2005 bis 2015. In beiden Gebieten ist die Vielfalt um 10 | |
Prozent zurückgegangen. Der Unterschied war, dass das Niveau in den | |
Naturschutzgebieten höher war; aber der Trend ist derselbe. | |
Wie das? | |
Das ist eigentlich ganz logisch. Es gibt ein paar Generalisten, zum | |
Beispiel das Tagpfauenauge oder den Distelfalter, die kommen immer klar. | |
Wenn wir nur noch die fünf Arten haben, die in beinahe jedem Lebensraum | |
überleben können, dann nehmen die auch nicht mehr groß ab. Wenn sie in | |
einer Gegend nicht vorkommen, spricht das eher dafür, dass noch niemand | |
genauer hingeschaut hat, dann müssen wir dort unser Monitoring verbessern. | |
Wie erklären Sie sich den Rückgang in den Naturschutzgebieten? | |
Viele Natura-2000-Gebiete werden nicht angemessen genutzt. Häufig sind das | |
Trockenrasen- oder Feuchtgebiete, die können nicht sich selbst überlassen | |
werden, dann wachsen sie zu. Bei intensiver Nutzung hingegen wird zu viel | |
Stickstoff in die Böden gebracht, dann verschwinden die Arten, die | |
nährstoffarme Böden brauchen. Eine zu intensive Nutzung ist genauso | |
ungünstig wie eine zu extensive oder gar keine Nutzung. [1][Das gilt auch | |
für Niedermoorstandorte, dafür wurde das Konzept der Paludikultur | |
erdacht], das Wirtschaften auf nassen Standorten. Wir brauchen eine | |
Nutzung, die mit den Kulturlandschaften gewachsen ist oder diese zumindest | |
im Ansatz simuliert. | |
Was kann das Renaturierungsgesetz der EU leisten? | |
Es öffnet Möglichkeiten einer nachhaltigen Nutzung. Es ist das Anliegen des | |
Gesetzes, die Biodiversität zu stärken und gleichzeitig Landnutzung zu | |
ermöglichen. Wir müssen die Artenvielfalt erhalten, Kohlenstoff speichern | |
und den Menschen vor Ort Lebensperspektiven bieten. Wir müssen klarer | |
kommunizieren, dass alles nur zusammen geht. Naturschutz in Deutschland | |
bedeutet häufig Kulturlandschaftsschutz. Die wahren Perlen der | |
Biodiversität, wo die meisten bedrohten Arten leben, sind historisch | |
geschaffene, genutzte Landschaften, etwa die Schwäbische Alb oder die | |
Lüneburger Heide. Viele Menschen haben ein eingezäuntes, wildes Gebiet im | |
Kopf, wenn sie an Naturschutz denken. Dabei kommt das Konzept von „Schutz- | |
und Schmutzgebieten“ aus den USA. Dieses Konzept der Trennung von Mensch | |
und Natur lässt sich aber nicht gut auf Mitteleuropa übertragen und wird | |
mittlerweile auch generell infrage gestellt. Wir sind geprägt von einer | |
Interaktion von Mensch und Natur. | |
Also bedauern Sie es nicht, [2][dass die Ostwestfalen sich in einem | |
Bürgerentscheid gegen einen Nationalpark im Waldgebiet Egge entschieden]? | |
Bundesweit haben wir nicht sehr viele Flächen, die wir sich selbst | |
überlassen. Das UN-Biodiversitätsabkommen von Montreal verpflichtet uns zu | |
10 Prozent der Fläche, die haben wir längst nicht. Um das zu erreichen, | |
wäre so ein Nationalpark natürlich ein wichtiger Beitrag. | |
Die Diskussion vor Ort war interessant, weil sowohl Befürworter als auch | |
Gegner mit Natur- und Waldschutz argumentiert haben. Die Befürworter | |
wollten den Wald sich selbst überlassen; die Gegner wollten neue Bäume | |
pflanzen, den Wald nachhaltig bewirtschaften und pflegen. Wer hat recht? | |
Das kommt drauf an. Nehmen wir uns viel Zeit – also eher hundert Jahre als | |
zehn –, dann kann ein Wald eine spannende Entwicklung nehmen, wenn er sich | |
selbst überlassen bleibt. Er bricht dann langsam zusammen und baut sich um. | |
Dann bietet er Lebensräume etwa für Arten, die Totholz brauchen. Wenn | |
Förster den Wald nachhaltig bewirtschaften, Bäume pflanzen, von denen sie | |
ausgehen, dass sie den Klimawandel überstehen, dann gibt es eine schnellere | |
Lösung. Das sind völlig unterschiedliche Konzepte. Welches stabiler ist, | |
wissen wir nicht unbedingt und ist auch von den lokalen Bedingungen | |
abhängig. | |
Es gibt Studien, die sagen, dass keine Bevölkerung der Welt einem | |
Nationalpark vor ihrer Haustür zustimmen würde. Sollte man also gar nicht | |
erst darüber abstimmen? | |
Doch, muss man. Man darf nicht über die Köpfe der Leute entscheiden. Und es | |
gibt ja auch vor Ort Menschen, die dafür sind, die Chancen für den | |
Tourismus sehen, die gerne selbst wandern oder mountainbiken in einem | |
Nationalpark. Die Nationalparke Bayerischer Wald oder Berchtesgaden sind | |
dafür gute Beispiele. | |
In Nordrhein-Westfalen sucht die Landesregierung seit zwei Jahren einen | |
Standort für einen zweiten Nationalpark und findet keinen. Was soll sie | |
denn machen, wenn die Leute einfach keinen Naturschutz wollen? | |
Sie muss kommunizieren und überzeugen. Was der Staat von oben herab | |
durchsetzt, kann nicht funktionieren. Im Straßenbau wird zwar mit | |
Enteignungen gearbeitet, aber das ist etwas anderes. Da besteht ein | |
Grundverständnis, dass das öffentliche Interesse an Straßen da ist. Das ist | |
beim Naturschutz nicht so – zumindest bislang leider nicht, obwohl das | |
öffentliche Interesse natürlich viel größer ist. Es bleibt nur der Dialog, | |
so ist das eben. | |
Im Moment bedeutet Dialog vor allem Rückschritt: Obwohl die Wissenschaft | |
immer eindringlicher vor dem Artensterben warnt, hat die Bundesregierung | |
nach den Bauernprotesten der vergangenen Monate viele fortschrittliche | |
Umweltgesetze im Agrarbereich einfach gekippt. | |
Das ist wohl leider so zu konstatieren. Aber es läuft nicht alles schlecht. | |
[3][Zum Beispiel argumentiert die Industrie heute relativ fortschrittlich, | |
sie war für das Nature Restauration Law]. Die Konfliktlinie war nicht | |
einfach „Hier die Linken und Ökos, dort die Industrie und die Rechten“, da | |
klemmen viele Schubladen. Es muss darum gehen, Lobbygruppen auszubremsen, | |
die nicht konstruktiv sind. | |
Damit meinen Sie die Landwirte? | |
Einige, aber letztlich wohl eher Vertreter von einigen Verbänden. Viele | |
Landwirte sehen, dass es nicht bleiben kann, wie es jetzt ist. Wieso soll | |
die EU dauerhaft Subventionen für Flächenbesitz zahlen? Es ändert sich doch | |
alles, es gibt künstliche Intelligenz, neue Fortbewegungsmittel – warum | |
soll in der Landwirtschaft und der Ernährung alles bleiben, wie es ist? | |
Außerdem müssen wir aufhören, die Erfolge unserer Anstrengungen immer nur | |
an unseren Maximalzielen zu messen. Kürzlich hat eine Studie untersucht, | |
welchen Effekt Naturschutzmaßnahmen haben; der Erfolg war messbar. Das | |
heißt, wenn wir nichts machen, kommt es schlimmer. Vielleicht dauert es, | |
vielleicht dauert es zu lange, aber es lohnt sich trotzdem. Wir müssen die | |
Leute mitnehmen, sonst erzeugen wir Widerstand. Und dann passiert noch | |
weniger. | |
23 Jun 2024 | |
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