| # taz.de -- Autorentheatertage in Berlin: Nadelöhr der deutschen Geschichte | |
| > Wo steht die deutschsprachige Dramatik? Eine Antwort geben die | |
| > Autorentheatertage am Deutschen Theater in Berlin. Ein Blick auf die | |
| > Texte. | |
| Bild: Szene aus Amir Gudarzi: „Als die Götter Menschen waren“, von FX Mayr… | |
| Man geht so leicht verloren. „Wo bin ich?“, fragt Alter Ego am Ende einer | |
| langen Reise durch die Geschichte des Osmanischen Reiches. „Zwischen den | |
| Welten“, antwortet Traum, Reisebegleiter. Eine zweite Antwort hat | |
| Halbpferd, dritte Figur auf dieser Zeitreise: „Du wohnst in Gelsenkirchen, | |
| versöhne dich mit deiner Mittelmäßigkeit“. | |
| Wo sind wir eigentlich? Wo kommen wir her? Was machen wir? Warum gerade | |
| hier? Diese Fragen stellen sich immer wieder in den neu geschriebenen | |
| Theatertexten, die teils als Auftragswerke für Theater entstanden und deren | |
| Uraufführungen jetzt zu den Autorentheatertagen am Deutschen Theater in | |
| Berlin eingeladen sind. | |
| Sie spannen einen weiten Horizont zwischen den Zeiten auf, verbinden | |
| Schöpfungsmythen mit einem Leben im fernen Weltraum, besuchen Paketboten, | |
| Faust und AfD-Kandidaten. Der Ausgangspunkt aber ist oft die Erfahrung | |
| einer konfliktschweren Gegenwart und einer tiefen Verunsicherung. | |
| „Bei DM an der Kasse stehen Menschen vor mir, aus allen Provinzen des | |
| Osmanischen Reichs, ach was Osmanen: Es sind die Enkel der Könige von | |
| Karthago, Hattuscha und Babylon, Erfinder der Schrift, Erfinder der | |
| Algebra. | |
| Heute zaubert die Armut allen die gleichen Augenringe auf die Gesichter – | |
| Gelsenkirchen“, so beschreibt Alter Ego in „Akins Traum vom Osmanischen | |
| Reich“ einmal den Startpunkt seiner imaginären Reise. [1][Akın Emanuel | |
| Ş]ipal hat das Stück im Auftrag des Schauspiels Köln geschrieben, der Autor | |
| ist 1991 in Essen geboren. „Du bist das Nadelöhr für die neue deutsche | |
| Geschichte“, spricht das Halbpferd Alter Ego an. Macht das Mut? Vielleicht | |
| den Mut der Verzweiflung? | |
| ## Kuriose Geschichtsrevue | |
| Denn riesengroß ist die Aufgabe, die Traum Alter Ego aufbürdet. Eine | |
| Expedition ins Unbekannte für die meisten Zuschauer:innen. Nichts weniger | |
| soll Alter Ego, als über beinahe 1.000 Jahre hinweg von einem Reich zu | |
| erzählen, das zu seinen besten Zeiten als toleranter Vielvölkerstaat | |
| funktionierte, in seinen schlechtesten Zeiten wegen Grausamkeit gefürchtet | |
| war. | |
| Şipal hat kein heroisches Epos geschrieben, eher eine kuriose | |
| Geschichtsrevue, mit Erben einer Dynastie, die lieber etwas anderes wollen | |
| als herrschen, erobern und Schlachten führen. Die mit den Anforderungen an | |
| ihre Männlichkeit ringen und das Handlungsmuster, das ihnen nicht zuletzt | |
| von den Müttern vorgeschrieben wird, zu unterlaufen suchen. | |
| Doch obwohl der Gestus parodistisch ist, schwingt auch Trauer mit, aus dem | |
| reichen Gewebe der Vergangenheit nicht mehr positive Bedeutung für die | |
| Gegenwart mitnehmen zu können. | |
| Die Vergangenheit als das Verlorene, das treibt die beiden Theatertexte | |
| „Als die Götter Menschen waren“ von Amir Gudarzi, 1986 geboren in Teheran, | |
| und „Wir werden diese Nacht nicht sterben“ von Guido Wertheimer, 1996 | |
| geboren in Argentinien, an. | |
| Wertheimers Text, der am Staatstheater Braunschweig uraufgeführt wurde, | |
| begleitet einen jungen Mann durch Berlin, der einerseits nach den Spuren | |
| seiner jüdischen Vorfahren sucht, die im Holocaust ermordet wurden, | |
| andererseits aber irritiert wird von den Erwartungen an ihn. | |
| ## Berlin wartet auf das Ende der Welt | |
| Will er sich denn nicht mehr mit Fragen des Judentums auseinandersetzen? | |
| Warum lässt er sich so treiben durch das graue Berlin? Er redet mit | |
| Geistern, aber auch mit den Mitgliedern einer Akademie, die von seinem | |
| Theatertext viel mehr Stringenz und Zeitgeschichte erwartet hätten. | |
| Wertheimers Sprache ist dabei poetisch, von Rastlosigkeit und Trauer | |
| durchzogen. Er zeichnet von Berlin das Bild einer Stadt, die sich irgendwie | |
| damit arrangiert hat, auf das Ende der Welt zu warten. | |
| Der Erwartungsdruck, der auf jüngeren Theaterautor:innen lastet, wird | |
| in ihren Texten oft mitreflektiert. Sie sind für die neue deutsche Vielfalt | |
| zuständig, ein Wunschbild, das noch nicht erreicht ist. „Wenn das Thema | |
| Diversity verraucht ist, möchte ich nicht als Antirassismusbeauftragter in | |
| einem Altersheim vegetieren müssen“, denkt Alter Ego mit Schrecken über | |
| seine Zukunft. | |
| In [2][„Doktormutter Faust“, eine pointenreiche Überschreibung von Goethes | |
| Faust, die Fatma Aydemir,] lange auch taz-Redakteurin, für das Theater | |
| Essen geschrieben hat, diskutiert die Dichterin mit der Theaterdirektorin. | |
| Sie streiten sich um Gretchen aus feministischer Perspektive, ob so eine | |
| klischeebehaftete Opferrolle überhaupt noch auf die Bühne dürfe. Die | |
| Theaterdirektorin will ein feministisch aufgerüstetes Gretchen, die | |
| Dichterin gar keins. | |
| Die Lösung, die sie schließlich findet, ist äußerst sophisticated, wendet | |
| den Fauststoff mehrmals: Nun ist Margarete Faust, Komparatistin und | |
| vielfach angefeindete Koryphäe der Genderforschung, die Hauptfigur, die | |
| sich unter Mephistos Einfluss verliebt: In einen schwulen Studenten aus | |
| Ägypten, der abgeschoben zu werden droht. | |
| ## Möglichkeiten der Manipulation | |
| Die Handlung legt immer wieder die Möglichkeiten von Machtmissbrauch, | |
| Übergriffigkeit und Manipulation nahe; die Dialoge, oft im Schlagabtausch | |
| mit Mephisto, aber zeigen auch, wie nahe Klischee und Erwartungshaltung | |
| beieinander wohnen, welche Fallen sie aufstellen mit schnell gefällten | |
| Urteilen und wie schwer es für die Menschen ist, ihnen zu entkommen. | |
| Für das Nationaltheater Mannheim hat [3][Amir Gudarzi] „Als die Götter | |
| Menschen waren“ geschrieben, ein sehr geschickt verschiedene Zeitebenen | |
| verschränkendes Stück. Es blickt aus der Zukunft auf unsere Gegenwart als | |
| Vergangenheit. Die Zukunft hat irgendwo begonnen jenseits der Erde, wo nur | |
| hinkam, wer von Elon Musk für würdig befunden wurde, in seinem Raumschiff | |
| gerettet zu werden. | |
| Videos aus der alten Zeit vor dem Ende unserer Welt werden heimlich | |
| geschaut. Man erlebt eine Ingenieurin, geflüchtet aus Syrien, die bei Tesla | |
| arbeitet und gigantische Probleme bekommt, als sie einen Umweltskandal | |
| öffentlich machen will. Man erlebt einen Paketboten in Wien unterwegs, der | |
| aus Aleppo stammt und sich dort zuvor, in Keller geflüchtet, während oben | |
| die Bomben fielen, Wien in Google Maps anschaute. | |
| Wien war sein Sehnsuchtsort, um sich wegzuträumen aus Aleppo. Angekommen in | |
| Wien, vermisst er Aleppo, trauert um die Zerstörung der Stadt und Getötete | |
| unter Freunden und Verwandten. | |
| ## Es beginnt mit den Göttern | |
| Gurdarzis Text beamt uns mit ungeheurer Geschwindigkeit zu verschiedenen | |
| Schauplätzen von Ausbeutung, Betrug und Verrat. Das beginnt alles mit den | |
| Göttern, den ersten Sklavenhaltern aus einem antiken Mythos. In diesem | |
| Theatertext öffnen sich immer wieder neue Fenster in Raum und Zeit, und | |
| dennoch bleibt er seinen Protagonisten, die in unserer Gegenwart leiden an | |
| der Verfasstheit unserer Gesellschaft, nicht endenden Kriegen und den | |
| Bedingungen, unter denen Geflüchtete leben müssen, sehr nahe. | |
| Diese vier Stücke zusammen betrachtet wollen auch ein Signal senden für die | |
| Diversität der Theater: Man bemüht sich, das ist schon mal gut, wenn auch | |
| vieles nicht so selbstverständlich ist, wie es politisch wünschenswert | |
| wäre. | |
| Was dem entgegensteht, ist sicher nicht allein die AfD, aber sie ist der | |
| sichtbarste Gegner der Offenheit. Eines der zehn Theaterstücke, die zu den | |
| Autorentheatertagen eingeladen sind, „Das beispielhafte Leben des Samuel | |
| W.“ von [4][Lukas Rietzschel], zeichnet die Biografie eines AfD-Politikers | |
| nach. Das Stück entstand im Auftrag des Gerhart-Hauptmann-Theaters in | |
| Görlitz-Zittau. | |
| Der Text ist eine Collage, für die Lukas Rietzschel in Görlitz, wo über 30 | |
| Prozent AfD wählen, Interviews geführt hat. 2019 scheiterte ein | |
| AfD-Kandidat für das Bürgermeisteramt nur knapp. Der fiktive Samuel W. | |
| tritt letztendlich nicht zur Wahl an. Sein Werdegang, von der Schule durch | |
| die Wendejahre, seine politischen Lehrjahre in der FDP, während er in | |
| Westdeutschland bei der Polizei arbeitete, wird aus den Gesprächen über ihn | |
| in Bruchstücken greifbar. | |
| ## Populismus als Köder? | |
| Der Versuch, den Politiker und seine rechte Radikalisierung aus seiner | |
| Biografie und den Verlustgefühlen im Osten Deutschlands zu erklären, bleibt | |
| dabei unbefriedigend. Einerseits wiederholen sich viele Klischees von den | |
| Abgehängten und Frustrierten, auch wenn der Text ihnen im Detail dann oft | |
| widerspricht. Dieser Hintergrund überrascht nicht. | |
| Andererseits reicht er als Erklärung nicht für die zunehmende Verhärtung, | |
| die Verklärung des Deutschen und den Fremdenhass. Samuel W. bleibt | |
| letztlich obskur und widersprüchlich. Denkt er so zu kurz gegriffen, wie | |
| die, die ihn verteidigen? Oder nutzt er den Populismus nur als Köder? Das | |
| bleibt letztlich offen. | |
| 2 Jun 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katrin Bettina Müller | |
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