| # taz.de -- Autor über Ausgrenzung in Schweden: „Rassisten sind kreativ“ | |
| > Nicolas Lunabba nahm ein sogenanntes Problemkind auf und schrieb darüber. | |
| > Ein Gespräch über Integration und die Frage, ob Literatur Leben rettet. | |
| Bild: Auch in Schweden geht die Schere zwischen Arm und Reich auf. Vorort Rosen… | |
| taz: Herr Lunabba, Sie leben in Malmö, einer Stadt, die in den vergangenen | |
| Jahren durch Bandenkriminalität und [1][Morde unter jungen Menschen] in die | |
| Schlagzeilen geraten ist. Sie arbeiten für die NGO Helamalmö, die jungen | |
| Menschen aus prekären Umständen hilft. Was machen Sie dort? | |
| Nicolas Lunabba: Im Moment arbeite ich nur noch etwa 40 Prozent für die | |
| Organisation, denn in meinem Zweitberuf bin ich Schriftsteller. Ich habe 20 | |
| Jahre lang Vollzeit für Helamalmö gearbeitet. Wir haben viel Aufmerksamkeit | |
| für unsere Arbeit bekommen, weil wir an der Veränderung der sozialen | |
| Dynamik angesetzt haben. | |
| Wir haben den Schwerpunkt nicht auf Kriminalität oder Verbrechen gelegt, | |
| sondern uns darauf konzentriert, wie wir ein möglichst gutes Umfeld für | |
| Kinder und Jugendliche schaffen können. Wir haben früh erkannt, dass die | |
| Grundbedürfnisse der Kinder als Erstes kommen – und alles andere danach. | |
| Wie war Ihre eigene Einwanderungsgeschichte? | |
| Ich bin in einer kleinen Stadt namens Lleida nahe Barcelona geboren. Ich | |
| komme aus einer spanisch-finnischen Familie, zog mit meiner Mutter nach | |
| Lund in der Nähe von Malmö. Ich habe also auch einen Migrationshintergrund, | |
| aber entscheidender ist vielleicht, dass ich aus der Unterschicht komme, | |
| meine Mutter gehörte der Arbeiterklasse an. | |
| In Schweden wurde die Arbeiterklasse lange romantisiert. Meine Erfahrung | |
| ist eine andere: In Armut mit einer alleinerziehenden Mutter in einer | |
| gefährlichen Gegend aufzuwachsen bedeutete, dass wir ständig um unsere | |
| Würde kämpfen mussten. | |
| Wie war Ihr Aufwachsen in Lund? | |
| Die meisten halten Lund für eine sehr wohlhabende Stadt, in der sich vor | |
| allem die Mittelschicht und die Studenten tummeln. Aber im Osten der Stadt | |
| gibt es eine Gegend, wo viele Einwanderer und ärmere Schichten leben. Dort | |
| bin ich groß geworden. | |
| Im Rahmen Ihrer Tätigkeit bei der NGO Helamalmö haben Sie einen | |
| muslimischen Jungen namens Elijah bei sich aufgenommen und darüber nun ein | |
| Buch geschrieben. Er wird oft als einer der svartskallar (= Kanaken, | |
| „Schwarzköpfe“) beschimpft und beschrieben, das Wort taucht ohnehin sehr | |
| oft auf. | |
| Es ist ein abwertender Begriff für Ausländer. Er wird vor allem von | |
| Rassisten benutzt. Gleichzeitig nutzen vor allem junge Ausländer ihn | |
| selbst, weil es eine Möglichkeit ist, die Kontrolle darüber | |
| zurückzugewinnen, wer du bist oder wer sie denken, der du bist. | |
| Schweden erscheint mir in Ihrem Buch wie ein Land, das aufgeteilt ist in | |
| die „bioschwedische“ Bevölkerung auf der einen und die migrantische | |
| Community auf der anderen Seite. | |
| Wir müssen erkennen, dass diese Unterscheidung auf einer Lüge basiert. Die | |
| Lüge ist, dass ein Unterschied zwischen einem Migranten wie mir und einem | |
| weißen Schweden behauptet wird. Natürlich gibt es kulturelle Unterschiede, | |
| aber es hängt alles davon ab, wie man die Dinge sieht. Es ist eine sehr | |
| niedere Art, über Menschen zu denken. | |
| Sie kennen sicher Selma Lagerlöfs Roman „Nils Holgerssons wunderbare Reise | |
| durch Schweden“. Nils Holgersson und Elijah, der muslimische Junge, der bei | |
| mir lebte, haben viel gemeinsam. Die Geschichte, die [2][rassistische | |
| Rhetorik,] die Klassenpolitik und die kulturellen Bezüge haben sie | |
| voneinander getrennt, aber sie sind sich sehr ähnlich. | |
| Warum ist die sogenannte Integration in Schweden an so vielen Orten | |
| gescheitert? | |
| Zunächst: Ich benutze das Wort Integration nie, denn Integration ist | |
| Assimilation. Dahinter steht die Logik: Wenn du dich nicht integrierst, | |
| wenn du kein Schwede wirst, dann weisen wir dich aus. Wir müssen über | |
| Ungleichheit in Schweden sprechen. Von Mitte der Achtziger an ist die | |
| Schere zwischen Arm und Reich in Schweden stärker aufgegangen als in jedem | |
| anderen OECD-Land. | |
| Ich will die Zeit davor nicht romantisieren, aber die Schulen | |
| funktionierten, und die Spaltungen innerhalb der Gesellschaft waren nicht | |
| vergleichbar mit jenen heute. Schweden galt als Musterland der Gleichheit, | |
| auch was Geschlechtergerechtigkeit betrifft. Schweden glauben noch heute, | |
| dass das in ihrer Natur liegt. Und sind blind für die Tatsache, dass wir | |
| mehr Milliardäre haben als die meisten Länder und zugleich ein großes | |
| Problem mit Armut. | |
| Die Schwedendemokraten sind nun mit an der Macht. Jüngst hörte man, dass | |
| die Regierung das Militär gegen Bandenkriminalität einsetzen will. Wird | |
| Schweden jetzt migrationspolitisch wie Ungarn? | |
| Die Fäden in dieser Regierung ziehen die Schwedendemokraten. Und Rassisten | |
| sind sehr kreativ darin, die migrantische Bevölkerung zu bestrafen. In | |
| Stockholm wollen sie verhindern, dass es eine Brücke zwischen zwei | |
| Stadtteilen gibt, damit sich die Schweden und die Ausländer nicht begegnen. | |
| Sie wollen Schwedischtests für Zweijährige einführen. Die Liste ist lang. | |
| Wir dürfen nicht vergessen, dass viele Schwedendemokraten aus der | |
| Neonazibewegung kommen. Inzwischen haben sie sich nur herausgeputzt und | |
| Anzüge angezogen. Das Problem ist, dass die anderen Parteien ihre Rhetorik | |
| und ihre Politik den Schwedendemokraten anpassen – um Stimmen zu bekommen. | |
| Ein Problem, das wir gerade eins zu eins mit der AfD in Deutschland haben. | |
| Nicht nur in Deutschland. Es ist ein gesamteuropäisches Problem. | |
| Lassen Sie uns noch mal über Elijah sprechen. Der Junge hat lange Zeit bei | |
| Ihnen gelebt, er hatte Schwierigkeiten in der Schule und soziale Probleme. | |
| Hat Elijah und das Schreiben über ihn Ihre Sicht auf junge Migranten | |
| verändert? | |
| Darauf gibt es zwei Antworten. Die erste: Absolut nicht. Ich habe so viele | |
| Jahre mit Kindern wie Elijah gearbeitet. Und ich selbst war oder bin in | |
| vielem genau wie Elijah, nur eine Generation älter. Zugleich war seine | |
| Situation in vielerlei Hinsicht viel schlimmer als meine. | |
| Die zweite Antwort ist: Ja. Denn ein Buch zu schreiben, ist eine Erkundung. | |
| Und einen dieser Jugendlichen für ein paar Jahre in meiner Wohnung zu | |
| haben, 24/7, gab mir die Möglichkeit, die Gesellschaft, die Auswirkungen | |
| der Segregation, die rassistische Politik und vieles mehr durch seine Augen | |
| zu betrachten. | |
| Wenn ich Ihr Buch richtig lese, lautet der Ausweg: Bildung, Bildung, | |
| Bildung. Und Kultur und Literatur. | |
| Nein! Die Vorstellung, dass Literatur unser Leben rettet, ist eine | |
| Mittelschichtsperspektive. Wir haben diese Vorstellung, dass Bücher einen | |
| Ausweg bieten – oder, im Fall von Elijah, das Basketballspielen. Erst | |
| einmal braucht ein solcher Junge aber einen Erwachsenen, der ihm zuhört, | |
| der für ihn da ist. Er braucht Zuneigung, regelmäßige Mahlzeiten. Erst dann | |
| kann er sich wirklich der Kultur und der Literatur zuwenden und seine | |
| Perspektiven erweitern. | |
| Für Sie selbst aber war Literatur eine Art Ausweg, oder? | |
| Das Schöne bei mir war, dass die Literatur erst spät in mein Leben kam – | |
| als ich 25 war. Ich fing an zu lesen und wurde zu einem regelrechten | |
| Maniac. Erst da habe ich den existenziellen und intellektuellen Wert des | |
| Lesens erkannt. Aber es war für mich ein weiter Weg dahin. Ich finde, es | |
| stimmt, [3][was Édouard Louis sagt]: Bücher können Gewalt repräsentieren | |
| für arme, vernachlässigte Menschen. In dem Sinne, dass sie etwas | |
| verkörpern, zu dem sie keinen Zugang haben. | |
| Es geht in Ihrem Buch auch um Polizeigewalt gegen Migranten. Hat [4][Black | |
| Lives Matter] in Schweden diesbezüglich etwas geändert? | |
| Dazu eine Anekdote: Ich habe in Schulen aus meinem Buch gelesen. In einer | |
| Schule in einem privilegierten Viertel fragte mich ein Lehrer: „In Ihrem | |
| Buch werden Polizisten nicht gerade als nette Leute dargestellt. Spüren Sie | |
| nicht die Verantwortung, Kinder und Leser wissen zu lassen, dass es auch | |
| gute Polizisten gibt?“ | |
| Ich sagte ihm, dass ich in den Jahren, in denen Elijah bei mir wohnte, | |
| exakt null positive Begegnungen mit der Polizei hatte. Und ich wollte die | |
| Wahrheit schreiben. Denn wir müssen die Wahrheit schreiben – auch wenn sie | |
| hässlich ist. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Black Lives Matter hat | |
| definitiv mehr Bewusstsein für Rassismus, Sexismus und Machokultur in | |
| Schweden geschaffen. | |
| 12 Jun 2024 | |
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| Jens Uthoff | |
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