| # taz.de -- Europawahl in Schweden: Ihr kennt mich | |
| > Haustürwahlkampf in Nordschweden: Sara Nylund, überzeugte | |
| > Sozialdemokratin, wirbt hier um Stimmen zur Europawahl. Meist ist sie | |
| > willkommen. | |
| Bild: Schön hier: Sara Nylund wird nicht ins EU-Parlament einziehen. Aber sie … | |
| Sara Nylund wechselt die Schuhe. Ihr Arbeitstag im Büro ist zu Ende, aber | |
| zwischen ihr und dem Feierabend steht noch eine Runde Klinkenputzen. Oder | |
| Türenklopfen, wie der schwedische Ausdruck übersetzt heißt. Die Sneaker | |
| sind besser zum Laufen – vor allem sind sie knallrot, mit einer weißen | |
| Blume an der Ferse. Damit ist sichergestellt, dass auf den Straßen der | |
| Ostsee-Kleinstadt Härnösand keine Unklarheiten aufkommen: Hier ist eine | |
| Sozialdemokratin unterwegs. | |
| Die 47-Jährige ist im Wahlkampfmodus. Als EU-Kandidatin ihrer Partei hat | |
| sie sich in diesem Frühling eine Menge zusätzliche Arbeit aufgehalst. | |
| Temporäre Hauptaufgabe: so viele Menschen wir möglich von der Bedeutung | |
| dieser Wahl überzeugen. Hier oben in der Provinz Västernorrland, wo der | |
| schwach besiedelte Norden Schwedens anfängt und selbst Stockholm für viele | |
| schon in einer anderen Welt liegt – von Brüssel ganz zu schweigen. Gut für | |
| Sara Nylund, dass sie sowieso gerne redet. | |
| In der Teeküche ihres Büroflurs isst sie noch schnell einen Salat und | |
| schildert dabei ihren Weg zu den Sozialdemokraten, der einstigen | |
| Dauerregierungspartei des Landes: „Anstatt nur Meinungen zu haben, solltest | |
| du dich jetzt mal engagieren“, habe sie sich gesagt. Das war vor 25 Jahren. | |
| Bei ihnen zu Hause sei viel über die schwedische Arbeiterbewegung | |
| gesprochen worden. | |
| „Meine Eltern waren nicht politisch aktiv, aber sie hatten den richtigen | |
| Kompass“, sagt sie zwischen zwei Bissen und einem Kontrollblick auf das | |
| Handy. „Sie wussten immer, dass man anderen helfen soll und wie wichtig die | |
| gesellschaftliche Teilhabe möglichst aller Menschen ist.“ Erst spät habe | |
| sie begriffen, wie sehr sie das geprägt hat. Sie hält fest an diesen | |
| Werten, die für sie gleichbedeutend sind mit der Sozialdemokratie. | |
| Es wird Zeit, zu den anderen Türklopferinnen des Abends zu stoßen. Vom | |
| „Haus der Region“, dem brutalistischen Klotz, in dem Nylund arbeitet, geht | |
| es rüber zum Parteibüro des sozialdemokratischen Ortsvereins. | |
| Es ist nur ein kurzer Gang am Wasser entlang. Wasser ist hier nie weit, | |
| Härnösand liegt am Bottnischen Meerbusen und an der Flussmündung des | |
| Ångermanälven. Endlich eisfrei, heute sonnenbeschienen, dahinter | |
| Kleinstadtpanorama mit ein paar Kirchtürmen und Brücken: „Ist es nicht | |
| schön?“, sagt die Wahlkämpferin, es ist ein kurzes Innehalten im Erzählen | |
| über ihr Leben und die Politik. | |
| Seit 2018 ist Nylund hauptberuflich Politikerin. Da wurde sie in den | |
| Vorstand des regionalen Parlaments der Provinz Västernorrland gewählt, wo | |
| sie für den Bereich regionale Entwicklung zuständig ist. Davor war lange | |
| viel Ehrenamt – und dann mehrere Teilzeitstellen, in der Partei, der | |
| Kommunalpolitik, der staatlichen Verwaltung. | |
| Warum kandidiert sie auch noch für die Europawahl – auf dem aussichtslosen | |
| Platz 21? Schweden hat derzeit insgesamt nur 21 EU-Parlamentarier. Nylund | |
| wird nicht nach Brüssel gehen, das weiß sie, aber das ist auch nicht der | |
| Sinn ihrer Kandidatur: „Bei allen Wahlen ist es wichtig, dass Kandidaten | |
| dabei sind, die die Leute tatsächlich kennen, aus ihrer Region“, erkärt sie | |
| ihre Motivation. | |
| ## Dünn besiedelter Norden | |
| Hier im Norden kämpften sie vor allem dafür, den rechtsextremen | |
| Schwedendemokraten so viele Stimmen wegzunehmen, dass sie ihre fünf | |
| sozialdemokratischen Mandate in Europa jetzt auf acht steigern: „Dann | |
| bekommen wir unseren Isak rein“, sagt sie. Gemeint ist Isak Utsi aus | |
| Arjeplog, aus der Provinz Norrbotten – erst mit ihm wäre Schwedens Norden | |
| in Brüssel sozialdemokratisch vertreten. | |
| Im Parteibüro warten drei Frauen und ein Mann auf ihren abendlichen | |
| Einsatz. Sie seien alle Pensionäre, erzählt er. Sie tragen rote Jacken mit | |
| dem Schriftzug „Socialdemokraterna.se“ auf dem Rücken. Doch, manchmal | |
| hätten sie auch jüngere Leute dabei, heute nur leider nicht. Mit etwas | |
| Wehmut erinnern sie sich an einen besonders tüchtigen 18-jährigen | |
| Wahlkämpfer, der sei aber leider nach Stockholm gezogen. | |
| Mehr als die Hälfte der Menschen, die jährlich aus Västernorrland | |
| wegziehen, ist zwischen 18 und 30 Jahren, rechnete das Statistische | |
| Zentralbüro vergangenes Jahr vor. Die meisten gehen für eine höhere | |
| Ausbildung in die großen Städte im Süden, 450 Kilometer sind es bis | |
| Stockholm. Aber auch die Uni in Umeå im Norden zieht Leute an. Zwischen | |
| 2002 bis 2021 sind jedes Jahr mehr Menschen gegangen als gekommen. | |
| 241.841 Menschen auf einer Fläche so groß wie Hessen – die | |
| Bevölkerungsdichte ist mit 11,2 die viertniedrigste. Nicht, dass es hier | |
| keine Arbeit gäbe: die Arbeitslosigkeit ist auf einem landesweit sehr | |
| niedrigem Stand. Ende letzten Jahres lag sie bei 5,9 Prozent im Vergleich | |
| zum Landesdurchschnitt von 6,5 Prozent. Forstwirtschaft und Papierindustrie | |
| als Jobgarant ist das eine, dazu kommen die Waffenindustrie, Erz und Stahl, | |
| Tourismus, Dienstleistung, Gesundheit und Pflege, Bildung, Verwaltung. Es | |
| gibt Stellen. Aber viele in auch in Deutschland typischen Mangelberufen. | |
| Die Kommunen hier werben schon lange: Kommt zu uns, Wohnraum ist günstig, | |
| die Natur ist schön, die Leute sind nett. Dass es sehr still sein kann und | |
| nicht zuletzt sehr kalt und dunkel über lange Zeit im Jahr, das wird nicht | |
| so groß hervorgehoben. | |
| Jetzt baut nach langem Hin und Her die chinesische Firma PTL eine riesige | |
| Fabrik in der Nähe – als Zulieferer für den [1][Batteriehersteller | |
| Northvolt], mit geplanten 1.900 Arbeitsplätzen. Woher kommen die Leute | |
| dafür und wo sollen sie wohnen? Wichtige Aufgaben für die nächsten Jahre, | |
| gerade für Nylund als Verantwortliche für die regionale Entwicklung und | |
| das große Thema „Umstellung auf grüne Industrie“ ganz oben auf der Liste. | |
| Gerade aber ist sie zuvörderst Wahlkämpferin und zieht sich im Parteibüro | |
| kurz in eine Ecke zurück: Per Video wird sie einer Wahlkampfgruppe im 80 | |
| Kilometer entfernten Sundsvall zugeschaltet. Eine kleine Anfeuerungsrede | |
| soll die EU-Kandidatin halten, die Leute motivieren für ihren Einsatz beim | |
| Klinkenputzen. | |
| Dass sie so was kann, das weiß man hier. Auf dem Regionalkongress ihrer | |
| Partei etwa, da waren es noch 56 Tage bis zur Europawahl am 9. Juni, | |
| versprühte sie mehr Energie als selbst der Stargast, die Parteichefin | |
| Magdalena Andersson. | |
| Der Begriff „knacka dörr“ – an Türen klopfen – war für sie dort auf … | |
| Mehrzweckhallen-Bühne die zentrale Losung; konkreter Auftrag und Metapher | |
| zugleich: Sprecht mit Leuten, jeden Tag, bei der Arbeit, in den | |
| Kommentarspalten in sozialen Medien, bei jeder Gelegenheit. Sagt denen, | |
| deren Herz links schlägt, dass sie wählen gehen müssen. | |
| Dass sie die EU-Wahl in derselben Rede zuerst zur Schicksalswahl erklärte | |
| und sie kurz darauf wieder zum Trainingslager für die nächste nationale | |
| Parlamentswahl degradierte, wäre wahrscheinlich in jedem EU-Land | |
| nachvollziehbar: Auch für dieses Publikum aus überwiegend kommunalpolitisch | |
| Aktiven war das Ziel näherliegend, die rechte schwedische Regierung 2026 | |
| wieder abzulösen. | |
| Nylund hat ein Talent, zu reden, auf Leute einzugehen, ihre Aufmerksamkeit | |
| zu halten. Solange die Politik noch nebenbei lief, arbeitete sie als | |
| selbstständige Moderatorin und Conférencière. Und es bleibt eine nützliche | |
| Fähigkeit, wenn man Menschen für sich und die eigenen Ideen einnehmen will. | |
| Beim Klinkenputzen, zum Beispiel, da ist es geradezu elementar. | |
| An diesem Abend gehen sie in zwei Gruppen, eine Karte der heute | |
| abzuarbeitenden Straßen Härnösands in der Hand. In der dazugehörigen | |
| Tabelle werden sie am Ende eintragen, an wie viele Türen sie geklopft, mit | |
| wie vielen Menschen sie persönlich gesprochen haben. Oder ob jemand gesagt | |
| hat, er wünsche nicht, dass sie jemals wieder vorbeikämen. | |
| ## Der Ton ist rauer geworden | |
| Nylund fährt mit zwei Mitstreiterinnen bis zu einem ruhigen Wohnviertel | |
| hinter dem kleinen Stadtkern. In der frühlingshaften Abendsonne stehen vor | |
| allem alte Holzhäuser, manche tipptopp renoviert, manche könnten einen | |
| neuen Anstrich gebrauchen. Die Gärten drum herum sind in ähnlich | |
| unterschiedlichen Verfassungen. | |
| Sie gehen nicht allein bei dieser Art von Wahlkampf, wo sie sich | |
| unaufgefordert der Privatsphäre von Unbekannten nähern. Sie gehen auf zwei | |
| verschiedenen Straßenseiten, quasi in Rufweite zueinander, in je zwei | |
| Zweiergruppen. Und Sara Nylund hat die Reporterin dabei, das muss reichen. | |
| Ab 2015 sei der Ton gegen politisch Verantwortliche auch hier deutlich | |
| rauer geworden, hatte Nylund erzählt. Einschneidendes Ereignis sei die | |
| Entscheidung gewesen, die Geburtsabteilung in einem der drei Krankenhäuser | |
| zu schließen. Drohendes oder tatsächliches Krankenhaussterben ist auch in | |
| Schweden ein emotionales Thema. | |
| Mit der wachsenden Dominanz sozialer Medien im Alltag würden online schnell | |
| heftige Bedrohungen ausgesprochen. Einige habe sie auch selbst schon | |
| angezeigt. Zu den harmloseren Kommentaren gehörte fast noch der, den sie | |
| gerade vor einer auf Facebook angekündigten Bürgerbegegung bekam: „Du | |
| traust dich tatsächlich her?“ schrieb jemand. „Also natürlich, was soll d… | |
| heißen?“, habe sie geantwortet. | |
| Sie marschiert in ihren roten Turnschuhen auf das erste Haus zu und klopft, | |
| die Tür wird sofort geöffnet, dahinter steht eine Frau, offenbar bereit zum | |
| Ausgehen. Die Wahlkämpferin fasst sich kurz: „Hallo, ich bin Sara Nylund, | |
| ich möchte nur an die EU-Wahl am 9. Juni erinnern“. Sie reicht etwas | |
| Material, einen Flyer mit einer Zusammenfassung des sozialdemokratischen | |
| Programms und Motto: „Willst du etwas Großes tun? Stimm für Zusammenhalt, | |
| nicht Zersplitterung.“ | |
| Darin liegt zur Ansicht schon mal die Liste der Kandidierenden. Dass ihr | |
| Name darauf steht, erwähnt sie nicht, keine Zeit für Plaudereien: „Ich sehe | |
| schon, Sie sind auf dem Sprung, dann noch einen schönen Abend“, sagt sie. | |
| Die Frau bedankt sich. „Hej hej!“, und weiter geht’s. Im Garten nebenan | |
| streicht ein Mann in kurzen Hosen Holzlatten. | |
| Wie weit es von Västernorrland bis nach Europa ist, jedenfalls dorthin, wo | |
| es aus schwedischer Sicht beginnt, das wurde ihr beim letzten | |
| Familienurlaub richtig bewusst, erzählt Nylund. Mit der Bahn seien sie, ihr | |
| Mann und ihre beiden Teenager-Söhne zuerst nach Deutschland gefahren, von | |
| dort weiter nach Italien. Die Fahrt bis Hamburg ging zum größten Teil | |
| einfach nur durch Schweden – mehr als zehn Stunden, bevor der Zug hinter | |
| Malmö das Land verlässt. „Das war faszinierend“, fand sie. „Es zeigt do… | |
| ein bisschen, wie groß Schweden ist und wie unglaublich weit ausgebreitet | |
| wir zehneinhalb Millionen Menschen leben.“ | |
| Kein Wunder, dass sie im Wahlkampf immer wieder auch erklären muss, warum | |
| sie meint, die ferne EU sei eben auch – oder gerade – für ihre Heimatregion | |
| wichtig. Mal abgesehen von der angenehmen Möglichkeit, frei durch Europa zu | |
| reisen. Sie zählt den Menschen dann ihre Argumente für Europa auf: der | |
| freie Handel, der sei ganz entscheidend für die exportstarke Provinz. Die | |
| gemeinsame Sicherheit, zentral angesichts der russischen Aggressivität. Das | |
| Bemühen um die richtige Klimapolitik. | |
| Wem das noch zu unkonkret ist, den frage sie erst mal, sagt Nylund, wo er | |
| wohne. Zumeist könne sie dann sagen: „Ach so, da habt ihr jetzt doch auch | |
| Glasfaserkabel bekommen! Das wurde zur Hälfte von der EU finanziert, | |
| wusstest du das?“ Nein, das wüssten viele nicht. Südschweden bekommt diese | |
| EU-Gelder übrigens nicht, diese Töpfe sind für dünn besiedelte Regionen wie | |
| Västernorrland reserviert. | |
| „Ah, die Politikerin!“, sagt der Mann, der in seinem Garten die Bretter | |
| streicht. Er hat ihre schnellen Schritte auf seinem Kiesweg gehört. „Und | |
| Handballerin!“, antwortet Nylund. Es zeigt sich, die beiden kennen sich, | |
| von sportlichen Begegnungen, er ist ehemaliger Fußballer. Und „natürlich | |
| Sozialdemokrat“, wie er gleich erzählt. | |
| Aber er findet, dass die Partei sich in der Region nicht immer genug | |
| durchsetzt. Sara Nylund entgegnet darauf, man müsse in der Zusammenarbeit | |
| mit anderen Parteien praktisch vorgehen – und dass sie aber immer dafür | |
| kämpfe, dass das Sozialdemokratische sich in Beschlüssen wiederfände. | |
| Und ja: Lieber mit den Bürgerlichen zusammenarbeiten als mit den Rechten. | |
| Klar, wer wollte da auch widersprechen? Am Ende wird noch etwas gelästert, | |
| ein beiden bekannter Kommunalpolitiker lässt es anscheinend am richtigen | |
| Kleidungsstil mangeln. Man repräsentiere doch nicht nur sich selbst!, regt | |
| sich der Mann auf. Dass er bei der EU-Wahl seine Stimme abgibt, sei im | |
| Übrigen selbstverständlich. | |
| ## Harmonisch am Gartenzaun | |
| „Oh, was für wunderbare Katzen!“ Sara Nylund ist um die Ecke in den | |
| nächsten Garten gegangen. Die Katzenbesitzerin wundert sich überhaupt nicht | |
| über den Besuch. Sie erzählt, dass ihre Wohnungskatzen plötzlich auch mal | |
| rauswollten, und dann, wie sehr sich das Leben gerade verändert habe, seit | |
| sie vor wenigen Monaten Mutter geworden sei. Es folgt ein herzlicher | |
| Austausch, sowohl über Katzen als auch über Babys, dabei kennen die beiden | |
| Frauen sich tatsächlich nicht. | |
| Schließlich erzählt die Wahlkämpferin doch noch, warum sie eigentlich hier | |
| ist. „Na klar, ich wähle sicher, vorab schon“, sagt die Frau, „ist besser | |
| jetzt, mit dem Baby, wer weiß, was am Wahltag hier gerade los ist“. Sie | |
| springt los, ihre Katzen haben sich ein bisschen zu weit rausgewagt. | |
| Beim nächsten Haus reagiert niemand auf das Klopfen. Die junge Mutter guckt | |
| noch mal um die Ecke und informiert: „Da sind zwei Türen hintereinander, | |
| die erste hören sie oft nicht“, sagt sie. Aber weiter ins Haus vordringen | |
| will Nylund jetzt auch nicht, hier kommt der Flyer in den Briefkasten. An | |
| der nächsten Kreuzung steckt sie kurzerhand einem vorbeifahrenden Bekannten | |
| noch einen durchs Autofenster. | |
| Es sind sehr harmonische Szenen. „Ja, Härnösand ist heimischer Boden“, sa… | |
| sie. „Es ist ein bisschen anders weiter draußen auf dem Land.“ Kurzer | |
| Zwischenrapport mit den beiden Parteikameradinnen auf der anderen | |
| Straßenseite: Auch sie haben nur Nettes zu berichten. Eine Frau sei gerade | |
| neu eingezogen und habe sie direkt hereingebeten, um ihnen die ganze | |
| Wohnung zu zeigen. | |
| Der offene Umgang miteinander ist offensichtlich für alle Beteiligten | |
| vertraute Normalität – dass jemand aggressiv werden könnte, gar eine | |
| gefährliche Situation entstehen könnte, scheint kein Thema zu sein. Eine | |
| Wahlkämpferin erzählt von der einen schlechten Erfahrung, die sie gemacht | |
| hat: Hinter einer Tür hätten zwei unangenehm große Hunde gebellt. Deren | |
| Besitzerin hätte ihnen nur ein „Wir sind Schwedendemokraten!“ | |
| entgegengerufen und die Tür wieder zugeknallt. | |
| Ja, die Schwedendemokraten (SD). Sara Nylund sagt, sie sei stolz auf die | |
| europäische Sozialdemokratie und ihr vor der Wahl veröffentlichtes | |
| gemeinsames Versprechen, dass sie niemals mit rechtsextremen Fraktionen im | |
| EU-Parlament zusammenarbeiten würde. Dass die dänischen Sozialdemokraten | |
| auf der Liste der Unterzeichnenden fehlen, war ihr bis jetzt nicht bewusst. | |
| Sie passt ihre Aussage an: „Dann bin ich stolz auf alle | |
| sozialdemokratischen Parteien in Europa, außer auf die dänische.“ | |
| Die Sorge vor einer fortgesetzten europäischen Rechtsruckerei ist sehr | |
| präsent. „In Schweden haben wir ja nun eine Regierung, die sich voll und | |
| ganz auf eine rechtspopulistische, rechtsextreme Partei verlässt. Das macht | |
| mir große Angst“, sagt Nylund. | |
| Die Regierung besteht mit ihren Ministerposten offiziell aus den | |
| konservativen Moderaten mit deren Ministerpräsident Ulf Kristersson sowie | |
| den Liberalen und Christdemokraten. Sie hat aber eine [2][offizielle | |
| Absprache mit den Schwedendemokraten] zu einer Zusammenarbeit getroffen, | |
| das heißt, ohne deren Zustimmung im Parlament läuft wenig. | |
| SD hetzt unter anderem unverhohlen gegen Migranten und verunglimpft den | |
| Islam. Gerade erst wurde bekannt, dass sie dafür auch [3][Fake News mit | |
| anonymen Social-Media-Konten nutzen]. Vor allem die Liberalen taten sich | |
| lange schwer mit dieser Zusammenarbeit, aber der Wille zu regieren war | |
| offenbar stärker. | |
| Im Sozialdemokraten-Jargon wird diese Regierung „SD-Regierung“ genannt. Was | |
| Sara Nylund für deren Ablösung tun kann, tut sie – auch wenn sich an diesem | |
| Abend niemand zu finden scheint, den sie noch von der rechten Gefahr | |
| überzeugen müsste. Ganz genau lässt es sich natürlich nicht sagen, nicht | |
| überall ist jemand zu Hause. | |
| An der nächsten Ecke trainieren eine Frau und ihr Kind im Garten einen | |
| Hund. Es ist, inzwischen kaum noch überraschend, eine frühere Kollegin aus | |
| der Provinzverwaltung. „Das ist die, die am besten weiß, wofür und wie man | |
| Fördergelder aus Brüssel bekommt“, stellt Nylund sie nicht ohne Stolz vor. | |
| Bei den nächsten zwei Häusern wirft sie wieder Flyer in die Briefkästen, | |
| dann sieht sie, die Mitstreiterinnen sind schon fertig mit ihrer | |
| Straßenseite: Feierabend für heute. | |
| Kurze Inventur auf der Rückfahrt: Insgesamt 20 Gespräche geführt, notieren | |
| die drei Wahlkämpferinnen. Kaum ist das geklärt, redet Sara Nylund | |
| plötzlich wieder ins Handy. Es hört zu: der Regionalvorstand der Partei, | |
| deren Sitzung gerade begonnen hat. Die läuft nebenher weiter, während die | |
| Frauen vor Ort sich für den Abend verabschieden. | |
| Sara Nylund wird spät zu Hause sein, auf ihrem Hof bei ihrer Familie, | |
| umgeben von Wald. Und früh wird sie wieder losfahren, bald ganz bis nach | |
| Abisko, richtig weit in den Norden, oder nach Örnskjöldsvik in der Nähe. | |
| Und überall, wo es nötig ist, wird sie versuchen die Leute davon zu | |
| überzeugen, dass jede Stimme bei der EU-Wahl zählt. | |
| 8 Jun 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/Northvolt-So-veraendert-d… | |
| [2] /Schwedens-neue-konservative-Regierung/!5888210 | |
| [3] /Schwedendemokraten-auf-Social-Media/!6009014 | |
| ## AUTOREN | |
| Anne Diekhoff | |
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