# taz.de -- Oldenburger Carl-von-Ossietzky-Preis: Protest gegen Jury-Entscheidu… | |
> Die Historikerin Anne Applebaum befürwortet Waffenlieferungen – und | |
> erhält den Carl-von-Ossietzky-Preis. Das löst teils scharfe Kritik aus. | |
Bild: Erhält einen Preis im Namen des Pazifisten Carl von Ossietzky: Anne Appl… | |
BREMEN taz | Carl von Ossietzky kann man nicht mehr fragen. 1938 ist der | |
Pazifist und Friedensnobelpreisträger gestorben, an den Folgen einer | |
Tuberkuloseerkrankung, die er sich im KZ Esterwegen geholt hatte. Er ist | |
heute Namensgeber von Straßen und Schulen, der Oldenburger Uni und von | |
gleich mehreren Preisen. | |
Der „Carl-von-Ossietzky-Preis für Zeitgeschichte und Politik“, den die | |
Stadt Oldenburg an diesem Donnerstag verleiht, sorgt in diesem Jahr für | |
Protest: „Eine Verhöhnung von Ossietzkys Lebenswerk und ein Armutszeugnis | |
für die Jury“, sieht das Antimilitaristische Bündnis Oldenburg in der | |
Verleihung. Der Grund: die [1][Preisträgerin Anne Applebaum.] | |
Der Preis wird seit 1984 im Zweijahresrhythmus vergeben und ist mit 10.000 | |
Euro dotiert. Ausgezeichnet werden sollen Personen, die sich mit Ossietzky | |
selbst oder mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus | |
auseinandersetzen; darüber hinaus kann der Preis aber auch an Personen | |
gehen, „die sich im Geiste Ossietzkys mit der demokratischen Tradition und | |
Gegenwart in Deutschland und Themen der Politik und Zeitgeschichte | |
befassen“. | |
Was diesen Geist Ossietzkys 2024 ausmacht, dazu gehen die Meinungen | |
offenbar auseinander. | |
Wobei: Die Stadt selbst würdigt den Namensgeber auf der Webseite zum Preis | |
als „leidenschaftlichen, konsequenten Pazifisten und überzeugten Anhänger | |
der Republik und Demokratie“. Die von ihm herausgebrachte Wochenschrift | |
Weltbühne war, so schreibt die Stadt, „gegen Wiederaufrüstung, | |
Militarismus, Revanchismus und Nationalsozialismus, gegen Faschismus und | |
Anwendung von Gewalt, von welcher Seite auch immer“. | |
Im April hat sich die fünfköpfige Jury unter dem Vorsitz der | |
Geschichtsprofessorin Dagmar Freist von der Carl-von-Ossietzky-Universität | |
Oldenburg entschieden, den Preis an Anne Applebaum zu verleihen. Applebaum | |
ist als Historikerin bekannt geworden mit einem Standardwerk zu den | |
sowjetischen Gulags; vor einigen Jahren schrieb die liberal-konservative | |
Journalistin ein vielbeachtetes Werk über den neuen Hang zu autoritären | |
Regierungen in westlichen Demokratien. | |
Seit Beginn des Ukrainekrieges ist sie in der deutschen Öffentlichkeit mit | |
der Forderung nach Waffenlieferungen an die Ukraine sehr präsent. Unter | |
anderem hatte sie Olaf Scholz im Februar 2023 vorgeworfen, zu lange | |
gezögert zu haben bei der Lieferung von Leopard-Panzern. „Seine lange | |
Weigerung ist sowohl peinlich als auch schädlich“, sagte sie [2][im | |
Interview mit der Frankfurter Rundschau.] Ein Ende des Krieges ist für | |
Applebaum nur durch eine völlige Niederlage Russlands denkbar. | |
Verhandlungen über einen Waffenstillstand lehnt sie aus diesem Grund ab. | |
Vor allem diese Haltung zum Ukrainekrieg ist es, die das | |
Antimilitaristische Bündnis gegen Applebaum aufbringt. „Es steht außer | |
Frage, dass Carl von Ossietzky solchen Auffassungen vehement widersprochen | |
und sich dagegen verwahrt hätte, ihn in das Schlepptau einer | |
Kriegstreiberin zu nehmen“, schreibt der [3][Bremer Verleger Helmut Donat,] | |
der 1996 selbst Preisträger war, für das Bündnis. Die Jury merke „nicht | |
einmal, dass sie Ossietzky in den Dienst einer Kriegspropaganda stellt und | |
ihm einen Stahlhelm überstülpt“. | |
## Pazifismus – nur zeitgebunden? | |
Tatsächlich kennt die Jury die Position Applebaums zum Krieg – und lässt | |
sie in ihre Bewertung einfließen: Die Journalistin „forderte von Anfang an | |
unzweideutig die Unterstützung der Ukraine gegen den Aggressor, um Russland | |
eine klare Botschaft zu senden“, steht in der Begründung zur | |
Preisverleihung. | |
„Pazifismus ist in meinen Augen keine überhistorisch statische Haltung, | |
sondern der Versuch, für den Frieden zu wirken mit den Mitteln, die im | |
gegebenen Moment zur Verfügung stehen“, sagt das Jurymitglied Martin Sabrow | |
vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. „Mit der Kraft | |
der Feder, mit friedlichem Engagement im demokratischem Rahmen, aber | |
notfalls auch mit der Bereitschaft, Angriffe abzuwehren, die diesen Rahmen | |
zerbrechen wollen“, ergänzt er schriftlich. | |
Die Bundeszentrale für Politische Bildung dagegen definiert Pazifismus als | |
„Grundhaltung, die jede Anwendung von Gewalt ablehnt und mit aller Kraft | |
für den Frieden eintritt“. Selbst bei einem Angriffskrieg solle sich aus | |
pazifistischer Sicht der Staat nicht mit militärischen Mitteln verteidigen. | |
Sabrow gibt zu bedenken, dass seit 1938 viel Zeit vergangen sei. „Ich | |
glaube kaum, dass von Ossietzkys Pazifismus ihn daran gehindert hätte, die | |
alliierte Kriegsführung gegen Hitlerdeutschland gutzuheißen“, sagt er für | |
die Jury. | |
Ossietzky habe in einer Zeit gehandelt, in der Militarismus und Bellizismus | |
die politische Kultur der Weimarer Republik bestimmten. „Sein Pazifismus | |
steht daher in einem ganz anderen Kontext als dem der Bundesrepublik, die | |
sich seit ihrer Gründung durch eine betonte Zivilität auszeichnet und sich | |
auch heute aus guten Gründen schwerer tut als andere Länder, der russischen | |
Aggression gegenüber eine konsistente Haltung zu entwickeln“, teilt Sabrow | |
mit. | |
Wie sich Ossietzkys Pazifismus in einem „anderen Kontext“ entwickelt hätte, | |
darüber ist schwer zu spekulieren. Überliefert ist von zwei norwegischen | |
Besucher*innen, dass er sich an seinem Totenbett „ironisch, aber ohne | |
Bitterkeit über die, die ihn misshandelt hatten“ geäußert habe. „Er verg… | |
ihnen, sie taten ihm fast leid“, heißt es in dem Bericht von Inger und Finn | |
Lie. | |
Überliefert ist auch, von seiner Frau und der Gestapo, seine Entgegnung an | |
Hermann Göring, als dieser den nach KZ-Aufenthalt bereits schwer kranken | |
Carl von Ossietzky nötigte, den Friedensnobelpreis abzulehnen: „Ich war | |
Pazifist“, soll er gesagt haben, „und ich werde Pazifist bleiben.“ | |
6 Jun 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Interview-mit-Anne-Applebaum/!5760258 | |
[2] https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/ukraine-news-krieg-putin-russland-inv… | |
[3] /Ein-Verleger-mit-Mission/!491759/ | |
## AUTOREN | |
Lotta Drügemöller | |
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