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# taz.de -- Infusionen gegen Hangover: Wer saufen will, soll leiden
> Ein Berliner Start-up bietet einen mobilen Service mit
> „Hangover-Infusionen“ an. Es ist Sinnbild für den Optimierungswahn der
> Gesellschaft.
Das Letzte, an das ich mich erinnern kann, ist mein Auftritt am Buffet, als
ich mir abwechselnd Würstchen, Benjamin-Blümchen-Torte und Kartoffelsalat
reinschaufle. Dann, wie ich auf dem Tisch tanze, meinen Ex-Freund anpöbele,
von da an rettet mich mein Filmriss. Am Tag danach plagt mich der
schlimmste Kater meines Lebens.
Damit Feierfreudige wie ich bedenkenlos am Abend die All-you-can-drink-Flat
bei Sausalitos ausnutzen und am nächsten Tag dennoch gewissenhaft das
morgendliche Work-out absolvieren können, bietet das Start-up „Hangover
Refresh“ einen mobilen Infusionsservice an. Seit Dezember 2023 können
Berliner*innen, die mit einem Kater zu kämpfen haben, wochenends Infusionen
buchen, die ihnen nach einer durchzechten Nacht wieder auf die Beine helfen
sollen.
Nach der Onlinebuchung eines Termins statten Ärzt*innen den sogenannten
Patient*innen einen Besuch am Bett ab und injizieren ihnen die Rettung:
die „Hangover-Infusion“. Sie besteht aus einer Schmerztablette, Kochsalz-
und [1][Elektrolytelösung] mit Vitaminen sowie je nach Paket zusätzlich aus
Vitamin C und B. Wenn der schwere Schädel nur von ein paar Bierchen
herrührt, sollte das Paket „Lange Nacht“ ausreichen; hat das Berghain
wieder zugeschlagen, könnte „Drei Tage Wach“ angebrachter sein. Für Paare
gibt es das Paket „Zusammen im Bett“. Zwischen 99 und 199 Euro kosten die
rund 40-minütigen Behandlungen.
Scheint, als wäre das Leben doch ein Wunschkonzert. Ein McMenü, das man
sich nach Lust und Laune zusammenstellt: Rausch: ja, Kater: nein. Spaß: ja,
Schmerzen: nein. Ein einziger Klick im Netz, und der Kater ist Geschichte.
„Nach der Infusion lassen die typischen Katersymptome wie Übelkeit,
Kopfschmerzen und leichte Verwirrtheit nach“, sagt der Start-up-Gründer Jan
Reinwein. „Insgesamt kriegt man einen kleinen Energiebooster.“
## Kater als Warnsignal
Steven Dooley, der sich an der Universität Heidelberg mit
[2][Lebererkrankungen] und der Wirkung von Alkohol beschäftigt, hält davon
nichts. „Ich würde niemanden empfehlen, der schädigenden Wirkung Alkohols
mit diesen Maßnahmen entgegenzuwirken“, sagt er. Auch wenn das unmittelbare
Wohlbefinden nach der Infusion besser sei, blieben die gefährlichen
langfristigen Auswirkungen bestehen. „Der Kater ist eigentlich etwas
Positives. Er dient einem als Warnsignal, vorsichtig zu sein und das
nächste Mal weniger zu trinken“, sagt Dooley. Wenn jedoch negative
Rückkopplungen unterdrückt würden, werde Alkoholkonsum verharmlost und der
Weg für mehr Konsum geebnet. „Das geht in die völlig falsche Richtung“,
sagt er.
Der Gedanke sei nicht: „Wie kann man Leuten dabei helfen, sich jedes
Wochenende die Kante zu geben?“, rechtfertigt sich Reinwein. „Aber wenn zum
Beispiel 20-Jährige aus Versehen zu viel Alkohol trinken und am Tag darauf
mit dieser für sie neuen Situation konfrontiert sind, versuchen wir nur zu
helfen, damit es ihnen nicht so schlecht geht. Das ist ja wohl legitim.“
Er glaubt nicht, dass seine Dienstleistung zu einer Verharmlosung des
Alkoholkonsums bei Jugendlichen führt. Vielmehr meint er, dass die teure
Erfahrung der Infusion Nutzer*innen dazu bewege, „nächstes Mal ein
bisschen ruhiger zu machen“. Zudem sei Alkohol in Deutschland ab 16 Jahren
legal, ihre Dienstleistung werde jedoch erst ab 18 Jahren angeboten.
„Unsere Hauptkundschaft sind 20- bis 45-Jährige, die unter Katersymptomen
leiden und sich nicht leisten können, irgendwo völlig fertig aufzutauchen“,
sagt Reinwein.
## Hyperfokus auf Optimierung
Vielleicht sollten sie auch gar nicht irgendwo auftauchen, sondern einfach
mal den Kater akzeptieren und leben. Den Hyperfokus auf [3][Gesundheit,
Optimierung und Leistung] beiseiteschieben und den Sinn für das intensive,
souveräne Leben wiederentdecken. Macht euch mal locker, ihr übersteht den
Kater schon!
Die unaufhörlichen Selbstverbesserer scheint das nicht zu überzeugen:
„Bisher läuft das Geschäft gut“, sagt Reinwein. Seit dem Start des
Buchungsdiensts im Dezember habe es noch kein Wochenende ohne Aufträge
gegeben. „Wenn der Service sich etabliert, werden wir ihn auch unter der
Woche anbieten.“ Während es die mobilen Hangover-Dienste in den USA und
Australien schon länger gibt, ist „Hangover Refresh“ deutschland- und
europaweit der erste Anbieter.
Alkoholexperte Dooley hält nichts von diesem Trend: „Die Nebenwirkungen
eines solchen invasiven Eingriffs sind absolut nicht vorhersehbar“, sagt
er. Außerdem gebe es keine validen klinischen Studien, die belegten, dass
Infusionen wirksamer seien, als etwa Wasser und Elektrolyte zu trinken.
## Alles nur Placebo?
„Der Kater ist eine komplexe Gemengelage aus Maßnahmen und Auswirkungen“,
sagt Dooley. Je nach Konstellation des Körpers werde Alkohol
unterschiedlich verarbeitet, sodass man ohne Blutbild gar nicht feststellen
könne, woran es dem Körper mangelt. Auch für vitamin- und
elektrolytehaltige Drinks und Pulver, wie „Katerfly“ oder „Hang & Over“,
die seit Jahren auf dem Drogeriemarkt kursieren und Linderung bei einem
Kater versprechen, gebe es keine wissenschaftlichen Befunde, die ihre
Wirksamkeit belegten.
Doch trotz mangelnder wissenschaftlicher Nachweise boomt die
Infusionsbranche, und zwar nicht nur die der Hangover-Infusionen.
Deutschlandweit verabreichen zig Unternehmen und Praxen sowohl Hangover-
als auch einen bunten Cocktail an sogenannten Lifestyle-Infusionen. Diese
versprechen, eine Zauberlösung für nahezu jedes Problem des spätmodernen
Leistungssubjekts zu sein, sei es das Altern, der Stress oder die
Schlaflosigkeit. Zum Beispiel beim „Anti-Stress-Boost“ bekommen
Patient*innen intravenös Aminosäuren und Elektrolyte eingeführt. Beim
„[4][Kinderwunsch]-Boost“ können sich Männer zur „Unterstützung der
männlichen Fruchtbarkeit“ für 199 Euro Vitamine, Mikronährstoffe und
Aminosäuren injizieren lassen.
Mit den Märchen, die die Pharmaindustrie den Selbstoptimierern erzählt,
verdient sie sich eine goldene Nase: Je nach Anbieter und Infusionspaket
liegen die Kosten für die Infusionen zwischen 50 und 500 Euro, die meisten
bewegen sich um die 200 Euro. Oftmals übernehme die private
Krankenversicherung die Kosten, erzählt ein Infusionsanbieter der taz.
Für Dooley ist das „alles Geldmacherei, alles [5][Placebo-Effekt] und
Hype“. Das brauchen nur die Hamster, um im Rad der
Optimierungsgesellschaft unaufhörlich rennen zu können.
15 May 2024
## LINKS
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[5] /Unterschaetzter-Placebo-Effekt/!5831292
## AUTOREN
Lilly Schröder
## TAGS
Kater
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