# taz.de -- Aus dem taz-Magazin: Von Rollmöpsen und Salzgurken | |
> Ob beim Käsekuchen oder beim Rotkraut: Sauer will gekonnt sein. Ein | |
> Plädoyer für die wundervolle Geschmacksvielfalt. Und das saure | |
> Katerfrühstück. | |
Bild: Lecker Labkaus. | |
Wenn im Morgengrauen der Kopf zerspringen will und Übelkeit in einem | |
hochkriecht wie eine nasskalte Kröte, ist die Party vorbei, und die | |
Erinnerung an die durchzechte Nacht enthält vage Gefühle von Überdruss. Die | |
Sauregurkenzeit der ernüchternden Seele hat begonnen. Der verkaterte Mensch | |
ist ein lichtscheues, hochempfindliches und aller Reize überdrüssiges | |
Wesen. Nicht mal an Espresso mag man denken. Aspirin ist nicht im Haus, die | |
zweihundert Meter zur Apotheke kommen einem so einladend vor wie der Gang | |
über ein zerklüftetes Gletscherfeld. Doch mitten im fiesesten Kater | |
verspürt man noch eine letzte Sinnesregung, den Heißhunger auf Saures. Wer | |
jetzt ohne Rollmops ist, wird lange ein Rollmops bleiben. | |
Nicht allein Bismarckheringe und Bratfische, besonders saure Gemüse wie | |
eingelegte Gurken, Perlzwiebeln oder Mixed Pickles sollen eine lindernde | |
Wirkung haben, wenn Restalkohol einen quält. Alkohol schwemmt bekanntlich | |
biologische Elektrolyte wie Magnesium und Kalium aus dem Körper, was dann | |
zu Kopfschmerzen, Ekelattacken und Erbrechen bis hin zu Kreislaufproblemen | |
führen kann. Das Salzig-Süßsäuerliche soll den akuten Mangel ausgleichen. | |
Der Appetit auf Saures muss nicht vom Unbehagen kommen, bereits der Anblick | |
einer Zitrone kann den Speichel lustvoll fließen lassen, ebenso wie ein | |
feucht beschlagenes Glas mit kühlem Weißwein in einer schwülen Stimmung. | |
Die saure Lust hat wohl auch psychosensorische Ursachen, der | |
herzerfrischende Biss in eine saure Gurke wird meist als belebend und | |
anregend empfunden, da er eine komplexe Geschmackserwartung erfüllt, die | |
nicht nur sauer, sondern zugleich auch süß, salzig oder scharf sein kann; | |
eine rätselhafte Spur der eigenen kulinarischen Mentalität, die sich in der | |
Kindheit anbahnt und als Gespür die geschmackliche Identität bildet. | |
Wer sauer sagt, meint immer auch süß, denn die Süße ist als wichtigste | |
Gegenspielerin des Sauren im Geschmack stets anwesend. Die Kombination von | |
Salzigem und Saurem ohne Süße, wie man sie in Spanien mag, ist unserem | |
Geschmack eher fremd. Die früher populäre milchsäurevergorene Salzgurke ist | |
vollkommen aus der Mode gekommen. Auch Säure und Schärfe mögen wir nur im | |
Trio mit der Süße. Die beliebte asiatische Sauerscharfsuppe ist bei uns in | |
Wahrheit eine Süßsauerscharfsuppe. Sauren Geschmack halten wir pur nicht | |
aus, immer ist ein Hauch Süße präsent, die seine Schärfe mildert und uns | |
vor der brennenden und ätzenden physiologischen Wirkung der Säure schützt. | |
Das Süße wiederum wirkt ohne Säure pappig und banal. Süße und Säure, diese | |
Symbiose zweier Antipoden, kann in unserer Geschmacksempfindung ein Drittes | |
bilden - geschmackliche Spannung. Entscheidend ist, ob diese Spannung plump | |
und vorhersehbar ist wie das erotische Spiel mit der Variation und | |
Wiederkehr des Gleichen oder ob sie vielschichtig und dadurch in ihrem | |
Auftauchen unberechenbar bleibt. | |
Beim Aufeinanderprallen von sauer und süß wird besonders deutlich, ob | |
jemand Geschmack besitzt oder nicht. Geschmacklosigkeit kommt hier als | |
spannungsloses Gleichgewicht von Süße und Säure zum Vorschein, wobei weder | |
Komplexität noch Lebendigkeit spürbar ist. Besonders wird das bei simplen | |
Essig-Zucker-Mixturen deutlich, sei es als lieblos zusammengerührte | |
Vinaigrette im Salat oder als stereotype "Ente süßsauer". Das Problem mit | |
der Süße-Säure-Harmonie ist, dass sie meist keine neuen | |
Geschmacksempfindungen hervorruft, weil sie auf Ausgleich fixiert ist. | |
Interessant wird das Verhältnis durch die Einbeziehung des Dissonanten. | |
Auch Dissonanz kann komponiert sein. | |
Säuerlicher Geschmack und Geruch sind sinnliche Empfindungen, deren | |
Beschreibung auf synästhetische Wahrnehmung zurückgeht. So wird die Säure | |
in einem Wein oft als grün oder hell bezeichnet, wobei das Auge als | |
Orientierung dient. Der Tastsinn ruft wiederum Worte wie kühl und scharf, | |
hart oder weich hervor. Säure wird je nach Erscheinungsbild und Kontext in | |
zwei unterschiedlichen Bedeutungsfeldern wahrgenommen und interpretiert. So | |
kann die Säure als aggressiv, brutal, bohrend, stechend, ätzend und | |
schneidend erlebt werden. Oder vollkommen anders: erquickend, belebend, | |
aufstörend, ja beschwingend, wild und vital. | |
In den Kulinaria bedeutet die Kunst des Sauren nicht etwa das Erzeugen | |
vordergründiger Süßsauereffekte und -kontraste, sondern das Saure | |
vielstimmig in Proportionen zu bringen. Das kann einen dann richtig aus der | |
Bahn des Gewohnten und Gewöhnlichen werfen. Große Weißweine vermögen dies, | |
etwa Rieslinge, die aus wuchtigen, hochkomplexen Fruchtsäuren und | |
intensiver Natursüße bestehen und eine Geschmacksempfindung auszulösen | |
vermögen, die einen langen Nachklang hat und auch noch nach dem | |
Herunterschlucken präsent bleibt. Ein Geheimnis solcher Geschmacksbilder | |
besteht darin, dass sie eine komplexe Säurestruktur besitzen, die nicht nur | |
aus kurzkettigen, flüchtigen Säuremolekülen, sondern auch aus langkettigen, | |
öligen Säuregebilden bestehen. | |
Riesling ist die Weinsorte, vor der sich bis vor wenigen Jahren viele | |
Weintrinker fürchteten, weil sie eine aggressive Säure haben kann, die | |
Sodbrennen auslöst und den Zahnschmelz angreift. Doch das Gros der momentan | |
erzeugten Rieslingweine hat eine harmonische Säure. Der derzeitige | |
Rieslingtrend hat gewiss auch damit zu tun, dass die Säure extrem reduziert | |
und homogenisiert wird. Allerdings erschließen sich aus dieser | |
Harmonisierung kaum neue Geschmacksperspektiven. Weißweine von Wert | |
enthalten oft einen Cocktail verschiedener natürlicher Fruchtsäuren, zu | |
denen neben der weichen Weinsäure auch die ruppige Apfelsäure gehören kann | |
- freilich nur in homöopathischen Mengen, als geheimnisvolle Geschmacksnote | |
im Hintergrund. | |
Der Reichtum komplexer Fruchtsäuren ist oft das Zünglein an der Waage, das | |
besonderen Geschmack von Wein und Speisen zum Besonderen adelt. Ordinärer | |
Essig ist vergleichsweise simpel, weil er meist nur aus Essigsäure besteht, | |
die nicht einmal die geschmackliche Komplexität eines frisch gepressten | |
Zitronensaftes besitzt. Zwar gibt es bei Essig inzwischen auch Erzeugnisse | |
mit komplexen Geschmäckern, doch sie bleiben Ausnahmen. Das oft inflationär | |
verwendete süßsaure "Balsamico" genannte Essig-Zucker-Wasser aus dem | |
Supermarkt wird meist als universeller Geschmacksverstärker eingesetzt, dem | |
jede Raffinesse abgeht. Damit lassen sich keine i-Tüpfelchen erzeugen. | |
Käsekuchen lebt vom süßsäuerlichen Spiel. In Berlin ist er meist | |
ungenießbar, weil die quarkige Feinsäuerlichkeit der Milchsäure mit Zucker | |
erstickt wird. Berlins Bäcker schaffen es tagtäglich, eine blasse | |
Zucker-Käse-Pampe zu backen, der jegliche Lebendigkeit abgeht. Ganz anders | |
ist dies bei gutem Frischkäse, der eine feine Säuerlichkeit besitzt, die | |
der Sahnigkeit eine köstliche Frische entlocken kann. Auch | |
Marillenkonfitüre braucht komplexe intensive Fruchtsäuren, um mit der Süße | |
in ein delikates Spiel zu gelangen. Eine tolle Marmelade schmeckt | |
vielschichtig fruchtsäuerlich und zugleich süß, ohne klebrig zu wirken. | |
Selbst eine scheinbar simple Hausmannsköstlichkeit wie Rotkraut lässt viele | |
scheitern, weil es offenbar schwierig ist, nicht in der Banalität einer | |
Süßspeise zu versacken. Süß, sauer und salzig so auszubalancieren, dass das | |
blaurote Kraut eine subtil säuerliche Spannung in unserer | |
Geschmacksempfindung erzeugt, ohne in trivialen Kontrasten stecken zu | |
bleiben, ist eine Gratwanderung, die die Fähigkeit des genauen | |
Hinschmeckens erfordert, etwas, was jenseits von Schnippeln, Rühren und | |
Ablöschen liegt. | |
Das Erzeugen interessanter Geschmacksbilder erfordert offensichtlich mehr | |
als Perfektion von Küchenhandwerk und -techniken, es setzt wohl auch einen | |
synästhetisch gebildeten Geschmackssinn voraus. Dazu gehört Erfahrung, denn | |
unsere geschmacklichen Vorstellungen werden durch die Fantasie beeinflusst, | |
und nur sehr selten stimmen die Vorstellungsbilder mit der Wahrnehmung | |
überein. Diese höchst individuellen Erfahrungen, die durch neue | |
Wahrnehmungen bestätigt, enttäuscht und bereichert werden können, schützen | |
vor groben Sinnestäuschungen. | |
25 Jan 2008 | |
## AUTOREN | |
Till Ehrlich | |
## TAGS | |
Kater | |
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