| # taz.de -- Tochter über ihren Vater: Die Hände meines Vaters | |
| > Am Ende seines Lebens hatte der Vater, der Mechaniker, keine Kraft mehr | |
| > in den Händen, um etwas zu reparieren. Ohne Arbeit aber fühlte er sich | |
| > verloren. | |
| Bild: Die Porträtierten hätten mit ihren Händen etwas sehr Intimes preisgege… | |
| Fünf Monate schon war er nicht mehr in der Werkstatt. Trotzdem zeichneten | |
| sich seine Handlinien noch immer dunkel von der Haut ab, als säße Dreck | |
| darin. Nur war es kein Dreck. Vielmehr hatte sich über die Jahre | |
| metallischer Staub in die mikroskopisch winzigen Vertiefungen der | |
| Handlinien, in Schrunden und kleine Schnitte eingegraben, war eingewachsen, | |
| hatte sich selbst eintätowiert und die Haut verfärbt. Die Tätowierungen | |
| seiner Hände waren ein Zeichen, adelten ihn, verliehen ihm Würde und Stand. | |
| Sie waren wie die Hautmalereien in den Gesichtern Indigener. | |
| Er war doch auch so einer, ein Eingeborener, nur dass man einen wie ihn auf | |
| dem Dorf lieber Einheimischen nennt. Diese ziehen keine Anthropologen an, | |
| niemand kam in seine Werkstatt, in diese Höhle, in der die sechzigjährige | |
| Patina an den Wänden wie Malerei war, um die Zeichen zu deuten. Als er noch | |
| arbeitete, war er dankbar dort unten. Darüber, über seine Dankbarkeit | |
| hätten die Forschenden schreiben können, hätten sie die Tür zu der | |
| Werkstatt geöffnet und wären eingetreten. Mein Vater hätte es nicht so | |
| sagen können, aber in der Werkstatt, seinem Schutzraum, waren die Albträume | |
| milder. Sie hätten die Albträume erforschen sollen. | |
| Mein Vater reparierte Autos. Er reparierte Karren, Karossen, Blechkisten. | |
| Sein Wortschatz für Autos war riesig. Rostschüssel, Schlitten, | |
| Benzinkutsche, Wagen, Vehikel, Schrottmühle, Chaise. Letzteres hörte sich, | |
| wenn er es sagte, wie „Scheysä“ an. „Was bringsch ma do fir ä Scheysä?… | |
| Was bringst du mir da für eine Chaise? | |
| Schon als Kind klang sein Beruf, den ich in der Schule mitunter hochdeutsch | |
| aufsagen sollte, geheimnisvoll. „Kaeffzett-Mechaniker. Kaeffzett – was | |
| sollte das sein? Und als es hieß, dass das Kraftfahrzeug bedeute, hatte ich | |
| immer noch keine Ahnung. „Na, Autos halt.“ Allerdings reparierte mein Vater | |
| auch anderes. Er reparierte alles, was anfiel. Einzig, dass es Sachen | |
| waren, also Zeugs, das er ganz machte. Was er nicht reparieren konnte: | |
| sich. Er war ein Heiler der Dinge, die richtete er auch dann noch, als ihm | |
| seine Finger nicht mehr gehorchten. | |
| ## Hände wie knorrige Wurzeln eines Efeus | |
| Als ich Kind war, waren mir die Hände meines Vater egal. Denn Menschen | |
| konnte er kaum berühren. Da war diese Scheu, etwas am Menschlichen zu | |
| zerstören, wenn er es anfasste. Wenn stimmt, was unsere Mutter sagte, dann | |
| hat er mich und meine Brüder nie auf dem Arm genommen. Vor Dingen dagegen | |
| hatte er diese Angst nicht. Drehte er eine Schraube auf, war es wie eine | |
| Liebkosung. | |
| Erst als er alt war und seine Hände aussahen wie knorrige Wurzeln eines | |
| Efeus, die sich scheinbar um sich selbst drehten, bewunderte ich sie. Weil | |
| er nie aufhörte, sie zu benutzen, selbst dann, als sie ihm nicht mehr | |
| gehorchten. „Gib mir doch ein paar Walnüsse zum Knacken“, sagte er, und | |
| dann brauchte er fünf Minuten für eine, zehn Minuten für zwei. Und wenn er | |
| ein Dutzend geknackt hatte, war eine Stunde vorbei und er war sicher, dass | |
| er tätig war. | |
| Er nahm die Nuss in die linke Hand, platzierte sie vorsichtig auf der | |
| Handfläche, griff mit der anderen Hand nach dem Nussknacker, legte ihn | |
| subtil um die Nuss, als müsse er Feinstarbeit leisten. Dann drückte er zu | |
| mit der einen Hand, aber die Kraft reichte nicht. Immerhin saß die Nuss nun | |
| fest in der Zange und er konnte die andere Hand zu Hilfe nehmen. Mit zwei | |
| Händen und aller Macht schaffte er es, dass die Nuss aufsprang. In zwei | |
| Teilen lag sie vor ihm. Jetzt kam die eigentliche Herausforderung: Wie | |
| bekommt er sie bloß aus den Schalen heraus? | |
| Die Hände meines Vaters waren keine Pranken, nicht groß, eher patschig mit | |
| unausgewogenen Maßen. Für seine kurzen Finger waren die Handflächen zu | |
| breit. Manchmal, wenn seine Hände kalt waren, steckte er sie in die Ärmel | |
| seines Pullovers. Die rechte in den linken Ärmel, die linke in den rechten. | |
| Ein Hauch von Wohlgefallen zog über sein Gesicht ob der Wärme. Oder er rieb | |
| sie ineinander, als wasche er sie, obwohl er gar nicht im Wasser war. Je | |
| älter er wurde, desto öfter, denn seine Knochen fingen schon Jahre früher | |
| an, sich zu verformen. Arthrose, Rheuma – aber solche Diagnosen sind | |
| unwichtig. Denn unvorstellbar war für meinen Vater, dass er seine Hände | |
| eines Tages nicht mehr nutzen kann. | |
| ## 60 Jahre Arbeit | |
| Als er noch in die Werkstatt ging, war die Routine meines Vaters so: Er | |
| stand auf, wusch sich, trank eine Tasse Tee, aß ein Marmeladenbrot, | |
| höchstens zwei, ging die Treppe runter, verschwand in der Werkstatt. Dort | |
| blieb er, unterbrochen vom Mittagessen und manchmal nachmittags, wenn | |
| jemand ihn mahnte, etwas zu trinken, für ein Glas Wasser. Wann er Abendbrot | |
| aß, war nie genau zu sagen. „Ruf den Vater“, hieß es dann und eines von u… | |
| Kindern ging in die Werkstatt und sagte, dass das „Z’oubädrinke“, das | |
| Zuabendtrinken, gerichtet sei. Auf dem Dorf hieß es „Abendtrinken“, nicht | |
| „Abendessen“. Aber wann er dann endlich die Treppen hochkam in die Küche, | |
| das hing davon ab, ob alles wieder funktionierte, was er am Tag reparieren | |
| wollte. Oft hatten meine Mutter, meine Geschwister und ich da schon | |
| gegessen. | |
| Er wusch sich die Hände, setzte sich auf die Eckbank. Brot, Wurst und Käse | |
| standen auf dem Tisch. Auch Wein und Wasser. Meine Mutter zog die Ablenkung | |
| des Abendprogramms im Fernsehen vor und saß schon im Wohnzimmer. Er blieb | |
| alleine am Küchentisch, aß, las Zeitung, hörte Radio, samstags am liebsten | |
| „Allein gegen alle“. Er hing an den Lippen von Hans Rosenthal, dem | |
| Moderator. Als Kind war ich irritiert, ob der Bewunderung, die mitschwang, | |
| wenn er dessen Namen sagte. Als dulde er nicht, dass wir ihn nicht kennen. | |
| Ob er selbst um dessen Geschichte wusste, weiß ich nicht. Den | |
| [1][Holocaust] hat Rosenthal überlebt, versteckt in einer Laube in Berlin. | |
| Sechzig Jahre lang arbeitete mein Vater von morgens bis abends in der | |
| Werkstatt, auch am Samstag. Sonntags aber setzte er sich ins Wohnzimmer an | |
| den Tisch, schlug seine großen Bücher auf und machte die Buchhaltung. Dann | |
| mussten wir leise sein. Wenn er Zahlen addierte, klang sein Murmeln wie | |
| Singen. | |
| Sehr ungern nur hat mein Vater das Dorf verlassen. Ausflüge? „Daheim ist es | |
| am schönsten.“ Sein Daheim begann nach dem [2][Krieg]. Da fing er an, im | |
| zerstörten Land seine Werkstatt zu bauen, in die er sich zurückziehen | |
| konnte. Weil er tätig war, weil er für die Leute alles reparierte, fragte | |
| niemand nach Freude jenseits der Arbeit. Er selbst am wenigsten. Er | |
| forderte nichts für sich. Nur dass er arbeiten konnte. Was er | |
| erwirtschaftete, teilte er. Gern sah er es, wenn andere in der Familie sich | |
| ebenso in der Arbeit erschöpften wie er. Meine Mutter, die Kinder, sein | |
| Bruder auch. | |
| ## Die Werkstatt – das Arbeitslager | |
| Ein paar Erleichterungen gab es mit der Zeit. Dass jemand anderes die | |
| Buchhaltung machte, etwa. Und dass andere, vor allem mein älterer Bruder, | |
| Schrauben nachzogen, die er eingeschraubt hatte. Denn seine Kraft schwand | |
| schleichend. | |
| Eine Zäsur war der Tod meiner Mutter. Das war, neun Jahre bevor er nicht | |
| mehr in die Werkstatt ging. Als er einmal an sie erinnerte, nannte er sie | |
| in einem Atemzug „Schutzengel und Handlanger“, der ihm nun fehle. Nie habe | |
| ich die beiden je sich umarmend gesehen, seine Hand auf ihrer Schulter, | |
| seine Hand auf ihrer Hand. | |
| Es hat lange gedauert, bis ich verstanden habe, dass die Werkstatt das | |
| Arbeitslager meines Vaters war, dass er nicht nur arbeitete, sondern auch | |
| eine Lebensschuld abtrug, jene, einmal versagt zu haben, dass er sich | |
| einmal, als junger Mann, keine zwanzig war er, hatte mitreißen lassen von | |
| Demagogen und deren hetzerischer Propaganda und in Zusammenhänge geriet, | |
| die er vor seinem Gewissen nicht gutheißen konnte. | |
| Ihn nach seinen Erlebnissen im Krieg zu fragen, war jedoch immer schwierig. | |
| Begann er zu erzählen, war sein Tonfall ein einziges Weinen. Das habe ich | |
| nicht ausgehalten. Ein Vater, dem die Tränen nicht kommen, der aber dennoch | |
| weint, wenn er spricht. Jede Frage war für ihn ein Angriff. Auch wenn es | |
| gar nicht um den Krieg ging, sondern ums Danach. „Was soll falsch daran | |
| sein zu arbeiten?“, fragte er. Ob er nicht nur Autos reparieren wollte, | |
| sondern auch das Schlimme, das Menschen sich angetan haben? Mein Vater war | |
| nur kurz in fremder Gefangenschaft. Aber sehr lange freiwillig in seinem | |
| eigenen Lager. „Die Werkstatt ist doch kein Lager“, sagte er. „Ich hatte … | |
| essen, zu trinken, wann immer ich hungrig und durstig war.“ | |
| Dann waren seine Hände von der Krankheit verformt. Seine Fingergelenke nun | |
| doppelt so breit wie die Knochen der Fingerglieder. Wie ungeschliffene | |
| Perlen reihten sie sich hintereinander. Wenn ich sie berührte, spürte ich | |
| die verformten Knochen, sah die bläuliche Farbe und das eintätowierte | |
| Geflecht, das sich über seine faltige Haut zog. | |
| Seine Hände waren immer kalt. „Frierst du?“, fragte ich. | |
| 21 May 2024 | |
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| Waltraud Schwab | |
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